Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer. Eine Kritik

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Ein Beitrag von Prof. Dr. Dieter Schönecker

Egal, ob man denkt, irgendeine Sache existiere oder existiere nicht – wer darüber spricht, muss zumindest eine ungefähre Vorstellung davon haben, worüber er spricht. Auch wer bestreitet, dass es extraterrestrische Intelligenz gibt, muss sich auf das Definitionsspiel einlassen (muss extraterrestrische Intelligenz auf dem Niveau durchschnittlicher menschlicher Intelligenz sein? können wir von extraterrestrischer Intelligenz sprechen, wenn sie das Niveau von Ratten hat? usw.). Adrian Daub verweigert sich dieser Begriffsarbeit. Die für ihn zentralen Begriffe der „Cancel Culture“ und „Anekdote“ werden in seinem Buch Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst (Suhrkamp 2022) nicht definiert; er macht also genau das, was er zugleich am Feuilleton und besonders an der NZZ kritisiert. Zwar umkreist Daub diese Begriffe in vielen Anläufen und er unterscheidet auch drei, wie er es nennt, „Bedeutungsebenen“ (27) von „Cancel Culture“ (CC). Aber es fehlt die begriffliche Schärfe, die es erlauben würde, etwa mögliche CC-Fälle im Kontext sexueller Übergriffe von Fällen des deplatforming zu unterscheiden, und natürlich insbesondere Fälle, in denen jemandes Meinungsfreiheit beschränkt wird, von solchen, bei denen es um Wissenschaftsfreiheit geht (tatsächlich sind die allermeisten Beispiele Daubs akademischer Natur); auch unterscheidet Daub nicht zwischen legitimen und illegitimen Formen des Cancelns, was umso gravierender ist, als es fast unbestritten Grenzen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit gibt, und also auch Formen legitimer Begrenzung. Wer klare Thesen, Definitionen und Argumente erwartet und nicht einen „Mischmasch von zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Prinzipien“ (Kant), wird an diesem Buch keine Freude haben.

Daub reiht sich ein in die Schar derjenigen, die behaupten – sei es aus strategischen Gründen, sei es aus echter Überzeugung –, so etwas wie eine CC als breites, ernstzunehmendes Problem gebe es nicht oder nur „angeblich“ (eine von Daub dutzende Male gebrauchte Vokabel) und sei jedenfalls nicht belegt. Vielmehr beruhe die Debatte um CC aber nur auf „Anekdoten“ (davon ist ständig die Rede) und „Einzelfällen“ (10, 191, 281) und sei daher auch nur Ausdruck einer „moralischen Panik“ (so schon im Buchtitel), der als hysterisches Gefühl der Bedrohung in der Realität nichts entspreche; auch verwendet er Ausdrücke wie „Mär vom zensurwütigen linken Amerika“ (18), „Fabel“ (20), „Posse“ (20), „Bagatelle“ (22), „Provinzposse“ (47), „Lappalie“ (29), „jahrzehntealte Zwischenfälle“ (29), „holzschnittartige Erzählung“ (29), „ritualisierte Wiederholung“ (37), „reißerische Neubeschreibung klassischer akademischer Auseinandersetzungen“ (47), „eklatante Banalität“ (50, 315), „Legende“ (168, 201, 203), „urban legend“ (201), „Mythos“ (201), „Folklore“ (201), „Privatmythologie“ (315), „relativ kontextfreie Beispiele“ (321), um die Realität der CC zu bezweifeln. Zudem sei die CC-Debatte auch nicht neu, sondern nur eine neuerliche Variante (u. a.) der Kritik an der Political Correctness, die in Europa aus antiamerikanischen Motiven heraus importiert worden sei, um dem vermeintlichen Exporteur die Schuld zu geben. Zwar wird man vermutlich kein besseres (aber auch polemischeres) Buch zur Leugnung oder Verteidigung der CC finden; allein es folgt daraus natürlich nicht, dass es überzeugend wäre, ganz im Gegenteil.

Beginnen wir mit der von Daub ausführlich behandelten Frage, woher die Kritik an CC kommt und ob sie neu ist. In der Tat ist es interessant, bei Daub zu lesen, wann (etwa ab 2016) und wie (vor allem auf Black Twitter) die Rede von der CC entstand, dann Fuß fasste (u. a. durch Kanye West, der sich als Trump-Anhänger gecancelt fühlte) und wie sehr sie den Debatten um die Political Correctness ähnelt oder diese eigentlich wiederholend fortsetzt („alles an diesem Diskurs ist recycelt“, 63). Diese Ausführungen Daubs wie überhaupt das ganze Buch lassen aber erkennen und leiden daran, dass Daub das Einmaleins der Philosophie nicht beherrscht. Denn was ist mit solchen Entwicklungsstudien gezeigt, selbst wenn sie stimmten? Die normativ und politisch wirklich relevanten Fragen sind, ob es CC gibt und wie man sie, wenn es sie denn gibt, normativ bewerten muss. Darauf kann man zwar erwidern, dass dies wichtige Fragen sind, aber dass man auch andere wichtige Fragen stellen kann, nämlich etwa die, wie sich die Rede von CC entwickelt hat und wie sie literaturwissenschaftlich, soziologisch oder kulturwissenschaftlich zu deuten ist. Das ist in gewisser Hinsicht richtig. Aber die Strategie von Daub besteht darin, in Wahrheit die Fragen nach der Existenz und Bewertung der CC sehr wohl zu beantworten – CC gibt es, so Daub, nur in anekdotischen Einzelfällen, sie ist überhaupt kein ernstzunehmendes normatives Problem, sondern nur moralische Panikmache –, und zwar indem er auf die Geschichte verweist; und das nennt die Philosophie einen genetischen Fehlschluss. Selbst wenn es also z. B. wahr wäre (wie Daub wiederholt in verschwörungstheoretischer Manier behauptet), dass das „Geld von Öl-, Tabak- und Finanzmilliardären“ (20) und die von ihnen finanzierten Stiftungen das Narrativ der CC überhaupt erst verbreitet hätten, würde daraus alleine natürlich nicht folgen, dass die Bedrohung durch CC nur eine „Erfindung“ (225) ist; so wenig wie aus der Tatsache allein, dass relativ wenige Menschen mit der Entwicklung von Corona-Impfstoffen sehr viel Geld verdient haben, folgen würde, dass diese Impfstoffe nicht wirkten, oder aus der Tatsache, dass Gates oder Soros bestimmte Stiftungen und Initiativen fördern, auch nur annährend zwingend etwas über den Wahrheitsgehalt der damit verknüpften Ideen folgen würde. Und selbst wenn es wahr sein sollte, dass unter dem Gewand der CC-Debatte nur die alte Debatte um Political Correctness noch einmal erhitzt wird, würde auch daraus allein selbstredend nicht folgen, dass CC kein Problem ist; so wenig wie aus der Tatsache, dass die Angst vor dem Klimawandel sich einreiht in eine historisch große Zahl von Ängsten vor dem Weltuntergang, folgen würde, dass diese Angst unbegründet wäre. Erst recht würde, wenn es das heute als CC kritisierte Phänomen, anders als Daub behauptet, tatsächlich gibt, und zwar nicht erst seit fünf Jahren (oder so), sondern seit den 70er Jahren (oder so), natürlich nicht folgen, dass dieses Phänomen nicht kritikwürdig wäre, so wenig wie aus der Tatsache, dass die Kritik der #MeToo-Bewegung an (kurz gesagt) sexueller Nötigung dadurch irgendwie an Berechtigung verliert, dass es das kritisierte Phänomen schon viel länger gibt. Daub beansprucht, es gehe ihm in diesem Buch nicht darum, ob der „böse Wolf“ in Gestalt der CC dieses Mal nach all seinen Vorläufern nun nicht doch wirklich komme; er wolle dem CC-Diskurs nur „seine Geschichte zurückgeben“ (36). Aber das ist nur ein rhetorisches Manöver, das seine wahre Absicht verschleiern soll – den Nachweis zu führen, dass es CC nicht gibt, oder jedenfalls nicht als eine irgendwie ernstzunehmende Gefahr. (Sein Verlag immerhin ist da direkter. Suhrkamp gibt eine Hauptthese des Buches im Klappentext so wieder: „Man pickt einige wenige Anekdoten heraus und reicht sie herum, was auch hierzulande zu einer verzerrten Wahrnehmung führt.“)

Wenn überhaupt, so würde der Verweis auf die sich in der Debatte um die CC zeigende Wiederkehr alter Muster und Mythen nur dann auch eine zusätzliche Kraft für die Frage nach der Wirklichkeit der CC entwickeln, wenn bereits hinreichend klar wäre, dass es CC nicht gibt. Das Hauptargument Daubs für diese These, dass es sie nicht gibt, ist seine permanente Unterstellung, die Belege für die Existenz seien bloß „Anekdoten“ (diesen Begriff verwendet Daub schon vor dem Kapitel, in dem er sich eigens mit der Form und Wirkungsweise von Anekdoten beschäftigt, drei Dutzend Mal). Dabei nutzt er eine Reihe kleinerer Beispiele, vor allem aber einige wenige berühmte Fälle (Stephan Thernstrom, Jordan Peterson), um den Nachweis zu führen, dass es CC nicht gibt; die Fälle angeblicher CC seien in Wahrheit eben nur Anekdoten, also im Kern ungenaue, verzerrte, aufgeblasene, übertreibende, einseitige, nicht neutral eruierte und vor allem unbelegte Geschichten, denen in der Realität nichts bis wenig entspreche, deren Erregungspotential zur moralischen Panik aber groß genug sei, um eine konservative Agenda zu bedienen, zu deren Wurzeln Figuren wie William F. Buckley und Ronald Reagan gehören.

Nun werden in der CC-Debatte ganz unbestreitbar Anekdoten und vermutlich sogar bewusste Falschmeldungen tradiert, und es steht auch außer Frage, dass bestimmte Akteure sie instrumentalisieren. Ich habe zwar Zweifel, ob Daubs Ausführungen zutreffend sind, und ob also nicht zumindest der Kern der ausführlicher von ihm untersuchten sogenannten Anekdoten größer und härter ist als Daub es behauptet. Aber schenken wir ihm einmal, dass es sich bei jenen von ihm erörterten Fällen tatsächlich um Anekdoten handelt. Was folgt daraus? Welche Beweiskraft hat das? Nun, gar keine. Betrachten wir das in einer Analogie: Es gibt seit langer Zeit die These, dass es in den USA (aber auch in Deutschland) nach wie vor einen strukturellen Rassismus gebe (besonders bei der Polizei); rassistische Übergriffe auch schwerwiegenderen Ausmaßes seien keine Einzelfälle, sondern kämen so gehäuft vor, dass es legitim sei, von einer Kultur des Rassismus zu reden, zumal es eine alltägliche Form des Rassismus gebe, die nicht wirklich öffentlich sichtbar werde. Nehmen wir nun an, jemand schreibe darüber ein Buch mit der Gegenthese, dies sei eine Erfindung linker Akteure: Die Belege für die These von einer Kultur des Rassismus fehlten; das seien alles Anekdoten, schlimmer noch Lügengeschichten, höchstens Einzelfälle. Um diese Gegenthese zu belegen, wird eine gar nicht so kleine Liste sogenannter racial hoaxs dargelegt; es werden also Fälle behaupteter rassistischer Übergriffe erörtert, bei denen es sich aber tatsächlich herausgestellt hat, dass es diese Übergriffe gar nicht gab. Und dann wird aus diesem Befund geschlossen, es gebe überhaupt keine Kultur des Rassismus, weil ja die Evidenz für diese These fehle, was eben durch die bloß kolportierten, tatsächlich aber nicht realen Fälle von Rassismus beweisen werde.

Man muss nicht viel über induktive Fehlschlüsse wissen, um zu sehen, dass hier etwas faul ist. Denn natürlich folgt aus der Tatsache, dass sich einige angebliche Fälle rassistischer Übergriffe als Anekdoten oder Lügengeschichten und jedenfalls im Kern als nicht wahr herausgestellt haben, nicht, dass es nicht andere Fälle gibt, und zwar andere Fälle auch in viel größerer Zahl, die durchaus real sind; es folgt also keineswegs, dass es keine oder nur vereinzelte Fälle rassistischer Übergriffe gibt. Dieser Schluss wäre, wenn überhaupt, nur dann legitim, wenn die Zahl der anderen Fälle im Verhältnis zu den gefakten Fällen hinreichend klein wäre; und dieser Schluss verliert zudem jede Plausibilität, wenn er mit der konkreten Erfahrung der tatsächlich betroffenen Menschen überhaupt nicht zusammenstimmt.

Es ist genau dieser Fehlschluss, der Daub unterläuft. Der (hier als erfolgreich unterstellte) Nachweis, es handele sich bei einer Reihe von angeblichen CC-Fällen in Wahrheit nur um Anekdoten, hat nur dann eine Chance auf Beweiskraft, wenn entweder klar ist, dass die Zahl der anderen Fälle im Verhältnis zu den Anekdoten-Fällen hinreichend klein ist, oder wenn der Nachweis geführt wird, dass auch jene anderen Fälle ganz überwiegend anekdotischen Charakter haben. Aber weder ist die Zahl der CC-Fälle klein noch haben sie überwiegend anekdotischen Charakter. Zum letzten Punkt: Hätte Adrian Daub sich an Komi Frey von FIRE oder Keith E. Whittington von der Academic Freedom Alliance gewandt, hätte er ohne Weiteres die Auskunft erhalten können, dass diese Organisationen selbstverständlich die Fälle prüfen, bei denen sie sich öffentlich für geschasste Personen einsetzen. Daub hätte sich auch an das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit wenden können. Das Netzwerk publiziert auf seiner Website fortlaufend Fälle, bei denen es davon ausgeht, dass Menschen in ihrer Wissenschaftsfreiheit verletzt werden, und selbstverständlich recherchieren wir und überlegen sehr sorgfältig, ob wir aktiv werden. Ich selbst habe bei der Recherche zu solchen Fällen mitgearbeitet. Natürlich ist es schwierig, zuverlässige Informationen zu bekommen, und es ist oft zweifelhaft, ob bestimmte Fälle unter den Begriff der akademischen CC zu subsumieren sind, selbst dann, wenn völlig klar wäre, wie genau man diesen Begriff definieren sollte. In der Tat gibt es im Netzwerk immer wieder Diskussionen darüber, ob wir bestimmte Personen öffentlich verteidigen bzw. umgekehrt kritisieren. Ich erlaube mir hier z. B. den Hinweis, dass es kürzlich eine Diskussion darüber gab, ob wir die Historikerin Franziska Davies gegen die Abmahnungen der von ihr kritisierten Journalistin Gabriele Krone-Schmalz in Schutz nehmen. Sind solche Abmahnungen Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit? Schwer zu sagen, und jedenfalls ohne Bezug auf den spezifischen Fall und seine Details nicht zu beantworten. Es ist aber nicht schwer zu sagen, dass Marie-Luise Vollbrecht akademischen CC-Attacken ausgesetzt wurde (sogar erfolgreich), oder auch in jüngerer Vergangenheit im deutschsprachigen Raum Bernd Lucke, Bruno Klauk, Paul Cullen, Egon Flaig, Rudolf Stöber, Georg Meggle. Wie oben schon bemerkt, definiert Daub den Begriff der „Anekdote“ nicht. Das hilft, wenn man wie Daub völlig eindeutige und dokumentierte Versuche des deplatforming wie etwa von Bernd Lucke als „Anekdote“ beschreibt. Aber was genau soll an dem Lucke-Fall eine Anekdote sein? Ist es eine Anekdote, dass Marie-Luise Vollbrecht gecancelt wurde? Wenn irgendjemand erzählt, er habe gehört, an irgendeinem College habe irgendjemand gefordert, Werke von Kant aus der Bibliothek zu verbannen, ohne dass Ort, Zeit und Personen nachvollziehbar identifiziert werden können, dann haben wir es mit einer Anekdote zu tun, an der etwas dran sein könnte oder auch nicht, und die auch bestimmte Funktionen im CC-Diskurs erfüllen mag. Aber aus der Tatsache, dass bestimmte Erzählungen oder Berichte diese Funktionen erfüllen (wie es im Falle Luckes gewiss der Fall war), folgt natürlich nicht, dass es eine Anekdote ist und erst recht nicht, dass die Ereignisse selbst nicht stattgefunden haben. Notwendige Bedingungen sind eben etwas anderes als hinreichende.

Im November 2021 ist Daubs Buch erschienen. Allein seitdem wurden folgende Fälle bzw. Versuche akademischer Verbannung bekannt (die Liste nicht-akademischer Fälle ist viel größer): Es hat sich in den „Twitter Files“ herausgestellt, dass Wissenschaftler wie Jay Bhattacharya (Stanford University, Mitinitiator der Great Barrington Declaration) auf Twitter geblacklistet und Tweets von Martin Kulldorf (Harvard) als „irreführend“ klassifiziert wurden (die massenhaften Zensuren bei Google und Co spielen bei Daub überhaupt keine Rolle); an der Hamlin University wird der Vertrag der Dozentin Erika López Prater nicht verlängert, weil sie in ihrem Seminar zwei Mohammed-Bilder zeigt, was islamophob gewesen sei; Klaus Fiedler verliert aufgrund von Rassismus-Vorwürfen seinen Job als Herausgeber einer psychologischen Fachzeitschrift, die Deutsche Gesellschaft für Psychologie nimmt ihn gegen diese Vorwürfe in Schutz; der Gouverneur von Florida übt in seinem Bundesstaat Druck auf Colleges und Universitäten aus bezüglich der Ausgaben für Programme und Kurse zur Critical Race Theory und DEI; die Valdosta State University verlangt von ihrer Biologie-Professorin Leslie Jones, bestimmte Lehrinhalte nicht mehr zu unterrichten, da Eltern sich über den „woke shit“ im Unterricht beklagt hätten; an der Edinburgh University fordert eine Gruppe von Studierenden, die Vorführung eines angeblich transgenderfeindlichen Films zu untersagen, es kommt später zu Störungen; eine schon länger existierende Elimination of Harmful Language Initiative an der Stanford University wird bekannt, in der dazu aufgefordert wird, bestimmte (angeblich rassistische, ableistische usw.) Begriffe nicht mehr zu verwenden, z. B. solle man statt „blind study“ den Ausdruck „masked study“ verwenden, weil der erstere Begriff „unintentionally perpetuates that disability is somehow abnormal or negative, furthering an ableist culture“; die konservative Publizistin Ann Coulter wird bei einem Vortrag an der Cornell University niedergebrüllt; in Leipzig wird ein Seminar des Philosophen Javier Y. Álvarez-Vázquez von Transgender-Aktivisten attackiert; das College of Psychologists of Ontario hat Jordan Peterson unter Verweis auf von einigen Menschen als problematisch empfundenen Tweets und Kommentare aufgefordert, an einem Coaching-Seminar unter therapeutischer Anleitung teilzunehmen (falls nicht, läuft er Gefahr, seine Lizenz als praktizierender Psychologe zu verlieren); mehrere Medien starten erneut eine Kampagne gegen Hans-Georg Maaßen, am Ende muss er als Mitautor an einem GG-Kommentar des Beck-Verlages seinen Hut nehmen; ein Vortrag von Robert Wintemute (King’s College London) über Sex und Gender an der McGill University wird als „transphob“ kritisiert und verhindert; Harvard University verweigert Kenneth Roth (ehemals Direktor von Human Rights Watch) zunächst ein Fellowship wegen seiner „Anti-Israel“ Position, nimmt die Entscheidung dann aber zurück; mehrere Studierende stören eine Veranstaltung mit der SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz an der Universität Genf, die Universität verurteilt das als „eine direkte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ und reicht Strafanzeige ein; der Sozialwissenschaftler Gerhardt Roth gewinnt einen Prozess gegen die Hochschule für angewandte Wissenschaften München, die nach Beschwerden von Studierenden über Roth (u. a. werfen sie ihm eine coronapolitikkritische Veröffentlichung im Rubikon und politische Instrumentalisierung seines Unterrichts vor) eine „Ermahnung wegen Überschreitung der Grenzen der Lehrfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG“ ausgesprochen hatte.

Diese Fälle sind frisch, und es mag sich durchaus erweisen, dass einige sich als schwer zu beurteilen, zweifelhaft oder sogar bloß anekdotisch erweisen (es ist z. B. noch unklar, ob die Hamlin-Dozentin schon vor ihrer Warnung zum Beginn der Unterrichtssitzung, dass Bilder von Mohammed zu sehen sein würden, diese Bilder sichtbar machte – wobei das m. E. unerheblich ist). Aber es sind Fälle wie diese, die z. B. die MIT Faculty dazu veranlasst hat, im Dezember 2022 ein „Statement on Freedom of Expression and Academic Freedom“ zu veröffentlichen, in dem es u. a. heißt: „A commitment to free expression includes hearing and hosting speakers, including those whose views or opinions may not be shared by many members of the MIT community and may be harmful to some. This commitment includes the freedom to criticize and peacefully protest speakers to whom one may object, but it does not extend to suppressing or restricting such speakers from expressing their views.“ Die These, dass es sich bei den aufgeführten Fällen wie überhaupt bei den Fällen, die von Institutionen wie FIRE, Academic Freedom Alliance oder dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit dokumentiert werden, bloß um Anekdoten oder um die immer gleichen Einzelfälle handelt, ist grotesk. Kann Daub auch nur einen einzigen Fall aus der Liste des Netzwerkes benennen, der bloß eine Anekdote ist bzw. auf einer solchen beruht? In der Kurzfassung seiner Thesen für die WOZ im November 2021 schrieb Daub allen Ernstes: „Im besten Fall wird diese Liste noch mit ein paar in die Jahre gekommenen Anekdoten aus Deutschland angereichert, etwa die Studentenproteste gegen den Politikwissenschaftler Herfried Münkler aus dem Jahr 2015 oder die Proteste gegen den AfD-Professor Bernd Lucke 2019 oder gegen einen unlustigen ARD-Comedian.“ Das ist exakt die Masche der Verharmlosung, die schon so oft vorgetragen wurde, und auf die ich selbst wiederholt reagiert habe. Es ist beschämend, Daub in dieser Reihe plumper CC-Leugner wiederzufinden. (Wer einen Eindruck von Daubs Masche gewinnen will, lese die Seiten 305–307: Daub stellt die Gender-Diskussion so dar, als wäre sie eine Erfindung des Feuilletons; kein Wort darüber, dass die öffentlich-rechtlichen Medien mittlerweile alle gendern, dass Studierende rechtswidrig zum Gendern gezwungen werden usw.)

Auch die von Gegnern der CC immer wieder verteidigte Position, dass Kritik, auch sehr scharfe, selbstredend nicht nur erlaubt, sondern unerlässlich ist, sich aber von CC darin wesentlich unterscheidet, dass diese anderen das Wort verbietet, jene nur anfechtet, nimmt Daub überhaupt nicht Ernst, im Gegenteil: „Eine der interessantesten Pirouetten der deutschen Cancel-Culture-Angst besteht darin, dass Debatten, die von Kritiker:innen unter Cancel Culture subsumiert werden, keinen richtigen Streit darstellen. Das ist insofern überraschend, als man ja meinen könnte, dass Angriffe auf vormals dominante Positionen, dass »Kulturkampf« und der Sturz alter Idole ein Musterbeispiel für einen Streit darstellen. Angeblich ist jedoch das Gegenteil der Fall: Ein »Shitstorm« ist kein Streit, »Canceln« ist keine Kritik“ (259, m. H.). Einen Vortrag wie den von Marie-Luise Vollbrecht zu canceln ist aber doch völlig offenkundig etwas ganz anderes als die darin zum Ausdruck kommenden Thesen zu kritisieren; deplatforming hat nichts mit ,Debatten‘ oder einfach nur ,Streit‘ zu tun. Bei seiner Erörterung des Falles Klaus Kinzler (242 ff.) fällt nicht ein Wort darüber, ob Kinzler nicht doch in seiner Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt worden sein könnte; im Vorgehen der Akteure gegen Kinzler (und andere) sieht Daub nur „Kritik“ (243). Dort, wo er auf den Fall Kathleen Stock zu sprechen kommt, kritisiert Daub die von ihm behauptete Tatsache, dass im deutschsprachigen Feuilleton Kritiker von Stock (Dembroff, Stryker, Kukla, Lavery) praktisch nicht zu Wort kommen, und er kritisiert m. E. zu Recht, dass Denkrichtungen wie etwa die Critical Race Theory von Kritikern der CC oft verzerrt und als komplett irrational und nicht diskussionswürdig dargestellt werden. Aber Stocks Position als transphob zu kritisieren ist eine Sache, ihre Entlassung zu fordern, Vorträge zu verhindern oder sie zu bedrohen eine andere. Man kann sehr wohl darüber streiten, ob bestimmte Formen der Kritik (so etwas wie Hasskritik) nicht doch dem Canceln näherkommen als man zunächst denken mag. Aber dazu und wie überhaupt zu dem Vorwurf, dass insbesondere deplatforming rechtswidrig die Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit von Menschen verletzt, dazu sagt Daub – nichts.

Ein letzter Punkt: Daub hält, wie gezeigt, selbst klare Fälle akademischer Verbannung offenkundig nur für Anekdoten und die Reaktion darauf nur für Panik und Panikmache. Abgesehen davon, dass solche Fälle, selbst wenn sie vereinzelte Fälle sein sollten, als solche sehr kritikwürdig wären – wie plausibel ist es, dass sie quasi aus dem Nichts kommen und also nicht die Spitze eines Eisbergs akademischer Verbannung sind? Daub hat sich offenkundig nicht die Mühe gemacht, ernsthaft mit Kollegen ins Gespräch zu kommen, die andere Erfahrungen machen als er. Als ich als Gastprofessor an der Stanford University die Gelegenheit hatte, mit ihm über den Siegener Fall zu sprechen (also über meine Einladung Jongens und Sarrazins und die Versuche aus Verwaltung, Kollegium und Studierendenschaft, die Vorträge zu verhindern) hatte er dafür nicht viel mehr übrig als das, was er in seinem Buch lang und breit zur Schau stellt: Verleugnung, Verharmlosung, Achselzucken. Aber wie plausibel ist es, dass es keine Kultur der CC gibt – also keine hinreichend große Gruppe akademisch sozialisierter Menschen, die sich durch gemeinsame, identitätsstiftende moralisch-politische Überzeugungen und Praxen auszeichnet, die tradiert werden und aus der heraus hinreichend viele Handlungen akademischer Verbannung ausgeführt werden , wenn an einer mittelgroßen Universität sämtliche Gremien und fast ausnahmslos alle Kolleginnen und Kollegen bereit sind, evident rechtswidrig die Wissenschaftsfreiheit eines Kollegen zu beschneiden? Ist das nur ein Ausrutscher? Ist es nur eine ablegatio ex nihilo, wenn eine Kollegin eine Vortagseinladung ablehnt, nur weil vor Ort jemand Mitglied im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist; oder junge Mitarbeiter in Aufsätzen nicht genannt werden wollen, weil deren Autoren (die eigenen Doktorväter) als rassistisch oder rechts gelten; oder ein junger Kollege einer anderen Universität sich an das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit wendet, weil er von seinem Dekan zu einem Gespräch geladen wird, da Studierende sich über seinen konservativen Katholizismus aufregen; und so weiter. Man muss nur hören wollen – oder können. (An einer Stelle seines Buches spricht Daub über „covering“ und argumentiert für die Wirklichkeit dieser Praxis der Selbstzensur auf folgende Weise: „Fragen Sie mal einen schwulen Amerikaner, ab wann er auf einem Roadtrip durchs Land aufhören würde, bei einem Einkauf an der Tankstelle seinen Ehemann als solchen zu bezeichnen. Er würde ganz sicher eine Antwort parat haben.“ (60) Soll man das als persönliche Anekdote abtun? Daub frage doch einmal einen nichtlinken jungen Akademiker, welche Positionen er in Wort und Schrift noch öffentlich sich zu äußern traut. Auch er würde ganz sicher eine Antwort parat haben.) Und schließlich: Wer die CC leugnet, leugnet in aller Regel auch die linke Dominanz und Orthodoxie an US-amerikanischen oder auch deutschen Universitäten. So auch Daub. Die Tatsache, dass empirische Studien eben diese Dominanz belegen, stört ihn so wenig wie es ihm zu denken gäbe, dass mittlerweile Tausende von Akademikern bei der US-amerikanischen Heterodox Academy mitmachen, weil sie den Mangel an akademischer und politischer Diversität kritisieren. Auch die Existenz der Academic Freedom Alliance kann in diesem Weltbild dann eben nur ein Produkt rechter Lobbygruppen sein; dass dort international erstklassige akademische Persönlichkeiten mitmachen, weil sie dem Druck der CC etwas entgegenhalten wollen – never mind. Wiederholt verweist Daub übrigens auch auf die doch nur kleine Zahl der nur angeblich linken Top-Universitäten; dass aber die führenden Persönlichkeiten etwa in der Politik und in den Medien völlig überproportional aus diesen wenigen Institutionen kommen (mehr als ein Dutzend Mitglieder des Kabinetts von Biden haben Abschlüsse von Harvard, Princeton usw.), verschweigt er.

Wie es sich für Kulturwissenschaftler unserer Tage gehört, meint Daub, die CC-Anekdoten seien „das Produkt von Macht“ (224). In Wahrheit ist es genau umgekehrt. In Daubs eigener Unschärfe gesprochen: Seine Anekdoten über den angeblich bloß anekdotischen Charakter der CC sind selbst ein ,Produkt von Macht‘. Denn hier spricht einer ihrer universitären Protagonisten, die eben diese Macht mit allen Mittel der Leugnung an ihrer effektivsten Quelle verteidigen wollen. Daub ist ein Fanatiker.

Prof. Dr. Dieter Schönecker