Etwas weniger Freiheit, bitte!

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Überlegungen zur Freiheit,
Sinn und Unsinn,
zwischen Meinung und Wissen.

Ein Beitrag von Reto Schölly (Juni 2022)

Wenn wir den Begriff der Freiheit verstehen als Grad der Abwesenheit von Einschränkungen, welche unsere Lebensgestaltungs- und Ausdrucks-Möglichkeiten vermindern, sehen wir schnell, dass die Menschheit noch nie so frei war, wie sie es heute — in Mitteleuropa — ist. Wir sehen, dass seit Oktober 2017 Homosexuelle in Deutschland heiraten dürfen.1 Wir sehen, dass junge Menschen seit der Einführung von Bafög nicht mehr chancenlos sind, eine akademische Karriere zu verfolgen, wenn sie aus weniger gut betuchten Familien kommen. Wir sehen, dank der Existenz der dualen Hochschulen und Berufskollegs, dass es möglich ist, eine grund- und bodenständige Berufsausbildung zu absolvieren, die Auszubildenden gar ein kleines Gehalt zuspricht. Wir sehen, dass es in Deutschland heute so viele Kunstschaffende gibt, wie noch nie zuvor (12.520 Selbständige in 2020).2

Seit dem Fall des NS-Regimes haben wir eine weitere, wichtige Freiheit: Wir dürfen nicht nur unsere Obrigkeit kritisieren, gar verhöhnen und obendrein noch abwählen, wir sind sogar quasi dazu angehalten, das zu tun. Wer gewaltfrei und offiziell angemeldet protestiert, darf nicht ohne Weiteres hierfür festgenommen werden. Wer die frühere Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beschimpfte, konnte nicht strafrechtlich verfolgt werden, sofern die Geschädigte keinen Strafantrag stellt (Bagatelldelikt).3 Das hat sie offenbar auch nicht getan. Ob Jan Böhmermanns „Schmähgedicht‘‘ gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angemessen war, vermag ich hier nicht zu entscheiden. Doch ist Herr Böhmermann nicht auf dem Schafott gelandet. Das ist sicher richtig so und gerecht; man mag von Böhmermann oder Erdoğan halten, was man will.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestaltete sich die Kritik an der Obrigkeit, besonders in Deutschland, Italien, Spanien, Rumänien und anderen, deutlich schwieriger — gelinde gesagt. Man denke etwa an die Ermordung der Geschwister Scholl und Anderer, welche sich gegen die Politik des Regimes gewehrt hatten. Auch die Berufswahl beschränkte sich auf Landwirtschaft oder Fabrikarbeit — andere Tätigkeiten standen der breiten Bevölkerung in aller Regel nicht offen. Die frühe Neuzeit und das Mittelalter kannten Gilden und das Standesrecht, weshalb der Sohn eines Bäckers wenig Chancen hatte, ein Schmied zu werden — während die Tochter die Wahl hatte, entweder Ehefrau oder Nonne zu sein. Künstlerinnen gab es äußerst wenige,4 und Künstler kamen in aller Regel aus wohlhabenden Familien.

Aber zugegeben: Justin I., ein Schweinebauer, ging als Zwanzigjähriger nach Konstantinopel, um seinen Militärdienst abzuleisten, trat der Prätorianischen Garde bei, und wurde im Jahre 518 Anno Domini (ost-)römischer Kaiser. Sein Adoptivsohn Petrus Flavius Sabbatius — Justinian — ebenfalls ein Bauer, folgte ihm 527 nach. Ich konstatiere also, dass es auch in der Antike und dem frühen Mittelalter durchaus möglich war, sozial aufzusteigen, obschon solche Fälle die Ausnahme darstellen.

Es ist also möglich, zu argumentieren, dass die Menschen heute wesentlich mehr Freiheiten haben als früher, obschon es durchaus noch zahlreiche Orte gibt, an denen Freiheiten und auch Menschenrechte wenig Beachtung finden. Dennoch würde ich sagen, dass es mit unserer Freiheit aufwärtsgeht.

Sollte die Freiheit eingeschränkt werden? Zunächst einmal muss ich sagen, dass sie eingeschränkt wird. Es gibt ja Dinge, die man nicht tun darf, wie etwa stehlen, schlagen, misshandeln, morden. Sollte die Redefreiheit eingeschränkt werden? Zunächst einmal muss ich sagen, dass sie eingeschränkt wird. Es gibt ja Dinge, die man nicht sagen darf, wie etwa Nazi- Parolen, zum Mord aufrufen, vor Gericht als Zeuge lügen, die Shoah (den Holocaust) leugnen.

Wir können also sagen, dass es in Deutschland eine Redefreiheit gibt, die an gewissen Stellen — wohl auch zurecht — eingeschränkt wird. Schließlich wollen wir etwa verhindern, dass Neonazi- Gruppen ihre Parolen freimütig verbreiten. Gibt es noch weitere Fälle, in denen eine Einschränkung der Redefreiheit notwendig wäre?

Als „Jana aus Kassel‘‘ sich selbst mit Sofie Scholl verglich, weil Jana schon ein paar Vorträge gegen die so genannte „Corona-Diktatur‘‘ gehalten und einige Demonstrationen angemeldet hatte5, platzte vielen Menschen der Kragen. Sofie Scholl, die sich mutig gegen die Nationalsozialisten gestellt und dafür mit ihrem Leben bezahlt hatte, ist eine größere Heldin als jemand, der Masken nicht mag und die Wissenschaft hinter Impfungen nicht begreift. Ob sie sich der Verharmlosung der Shoah / des Holocausts schuldig gemacht hat, müssen Juristen bewerten. Aus moralischer Sicht zeigt eine solche Behauptung, wie Jana sie gemacht hat, aber von einer fortgeschrittenen Dekadenz und einer Selbstüberschätzung, die kaum übertroffen werden kann. Dennoch gibt es, gerade während der Corona-Pandemie, der Millionen zum Opfer gefallen sind, und auch heute noch, eine Vielzahl von Narren, die Wissenschaft für eine Meinung halten, die deren Überzeugung gegenüber gleichwertig oder gar minderwertig ist. Dabei müssen wir uns darüber klar sein, dass eine Wissenschaft, wenn sie Poppersch6 ist, keine Meinung, keine Überzeugung, keine Religion, keinen Glauben kennt. Wissenschaft und Glaube sind derweil nicht wirklich im Zwist, nachdem sich der Glaube ja eben nicht im Feld des Wissens verorten will. Gott, etwa, ist eine Glaubensentität, die sich außerhalb von Fragen von natürlichem Sein oder Nichtsein bewegt, die keine Logik erfordert, um zu funktionieren. Und das ist auch gut so. Während wissenschaftliche Überlegungen, seien sie auf einer philosophischen oder auf einer physikalischen Ebene, ganz andere Beweisketten benötigen. Sicher werden wissenschaftliche Erkenntnisse gelegentlich revidiert, aber in der Regel wird eine bisherige Erkenntnis nicht durch eine gänzlich neue ersetzt, sondern die alte wird meist durch kleine Korrekturen zur neuen. Newton lag mit seiner mechanischen Theorie nicht falsch und wurde durch Einstein nicht widerlegt; die Relativitätstheorie schränkte den Geltungsbereich der newtonschen Physik nur ein, namentlich auf geringere Geschwindigkeiten und geringere Dichten.

Eine Überzeugung darf nicht mit der Wahrheit verwechselt werden; die Philosophie hat bekanntlich ohnehin schon immer die Schwierigkeit gehabt, die Frage zu werten, ob es denn so etwas wie eine definitiv erfassbare Wahrheit überhaupt gibt. Ich erinnere nur an Platons Höhlengleichnis! Eine ernstzunehmende wissenschaftliche Behauptung muss, unter anderem, falsifizierbar sein, sie muss sich identifizieren als eine Hypothese oder eine These, sie muss Belege anführen und sie muss kritisch hinterfragt werden können. Dabei ist eine kritische Hinterfragung nicht das, was „Corona-Leugner‘‘ und „Corona-Leugnerinnen‘‘ tun: durch Unverständnis anzweifeln. Kritische Hinterfragung bedeutet das Nachvollziehen einer Argumentationskette, Belege prüfen und gegebenenfalls Experimente wiederholen. Wir wissen, dass es so etwas wie „Confirmation Bias‘‘ oder auch „Replication Crisis‘‘7 gibt (etwa in der Psychologie oder auch anderen Fachbereichen), in welcher Studien bei Wiederholung gelegentlich andere Ergebnisse entbergen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wissenschaftliche Ergebnisse weniger wert wären als Facebook-Posts und persönliche Überzeugungen. Das bedeutet nur, dass Meta-Studien, welche Studien studieren, einen höheren Stellenwert haben als alleinstehende Untersuchungen. Einer gut ausgeführten Meta-Studie kann man — so würde ich zumindest meinen — zurechnen, dass sie der Wahrheit so nahe wie möglich kommt, obschon nur die Götter die Wahrheit in ihrer Gesamtheit kennen können.

Etwas weniger Freiheit, bitte! fordere ich im Titel. Es ist so, dass wir Redefreiheit als ein hohes Gut ansehen müssen. Eine totale Redefreiheit ist allerdings nicht wünschenswert, denn nicht einmal Anarchisten, welche gerne die totale Freiheit fordern, wollen Neonazis dieselbe Freiheit zugestehen. Wo also liegt die Grenze?

Wenn die Rede Gesetze verletzt, das wäre eine Grenze. Wenn die Rede wissenschaftliche Erkenntnisse aus Unwissenheit abstreitet, das wäre eine andere. Wenn eine Überzeugung sich gegen den wissenschaftlichen Konsens stellt, das wäre eine weitere. Wenn die abweichende Meinung gleichgestellt wird mit nachprüfbaren Daten, das wäre noch eine.

Wer sich eine Freiheit nimmt, muss sich bewusst sein, dass dadurch die Freiheiten anderer eingeschränkt werden können. Geht man bei Rot über die Straße, müssen diejenigen, die eigentlich frei waren, zu fahren, trotzdem stehen bleiben. Schreit man einen Vortragenden bis zur Unverständlichkeit nieder, so nimmt man ihm die Freiheit der Rede. Wer selbst frei reden dürfen will, soll anderen auch diese Freiheit gewähren. Aber wenn sich eine Ideologie über das Nachprüfbare stellt, dann muss die Freiheit gegenüber der Sachlichkeit zurücktreten.

Etwas weniger Freiheit, bitte! Das würde ich mir in den Kontexten wünschen, in denen die Aufklärung durch die Ideologie behindert wird. Die Ideologie nimmt sich hierbei Freiheiten, welche für die Wahrheitsfindung so schädlich sind, dass es in meinem Fall zu einer Katastrophe geführt hat. Eine Anekdote:

Während einem meiner Kurse an einer Universität in Deutschland habe ich etwas getan, das die Studierendenschaft in helle Aufregung versetzte. Ich habe die Angewohnheit, in meinen Lehrveranstaltungen während mindestens einer Sitzung ein aktuelles Thema zu besprechen. Die fragliche Sitzung ereignete sich just in der Woche, in der Derek Chauvin — der ehemalige Polizist, der George Floyd getötet hatte — wegen Mordes verurteilt worden war. Weil ich wusste, dass sich viele Studierende für die Black Lives Matter-Bewegung interessierten, beschloss ich, eine Sitzung hierüber zu machen. Ich hatte den Prozess genau verfolgt, denn in den Vereinigten Staaten können Gerichtsverfahren auch im TV gezeigt und online gestreamt werden.

Die Verteidigung hatte behauptet, dass Floyd an einer Überdosis Fentanyl gestorben war. Fentanyl ist ein Opioid, das bei Überdosierung tatsächlich Atemstillstand herbeiführen kann. Nachdem ich das berichtete, geriet die Studierendenschaft bereits in Aufregung. Offenbar haben sie sich nicht dafür interessiert, dass ich sagte, das sei die Behauptung der Verteidigung gewesen, und nicht meine Einschätzung.

Ich erzählte danach von den Zeugenaussagen des Lungenspezialisten Martin Tobin, der sagte, er hätte über siebenhundert Publikationen zum Thema des menschlichen Atemsystems geschrieben. Tobin erklärte, dass Fentanyl nicht die Todesursache sein konnte, da Floyd aufgrund seiner Opioid-Abhängigkeit eine hohe Toleranz besaß, und dass die in seinem Blut gefundene Dosis auch bei nicht abhängigen Erwachsenen keine tödliche Wirkung hat. Einige Studierende regten sich daraufhin wieder ein bisschen ab. Tobin erklärte, dass die Todesursache „Strangulation‘‘ sei, also Erwürgen. Derek Chauvin hatte fast neuneinhalb Minuten auf George Floyds Hals gekniet, was auch durch zwei Videoaufnahmen und durch zahlreiche Zeugenaussagen belegt worden war. Der Gutachter sprach dann von einem klaren Fall der Tötung durch Erwürgen. Auch die Zeugenaussagen des Polizeichefs und die der zuständigen Polizeiausbilderin bestätigten, dass die von Chauvin angewandte Methode des Festhaltens in keiner Weise in der Polizeipraxis üblich oder überhaupt erlaubt sei. Das Urteil war, am Ende des Prozesses, „Murder 2‘‘ — nach meinem Verständnis „Totschlag in einem besonders schweren Fall‘‘, aber das können Juristen und Juristinnen besser als ich bewerten. Jedenfalls begrüße ich persönlich, dass der Totschläger Chauvin über 20 Jahre Freiheitsstrafe erhalten hat.

Nach der Vorstellung des Themas habe ich den Studierenden erklärt, wie man ein kleines Softwareprogramm selbst schreiben kann, um Statistiken auszuwerten. Anlässlich des aktuellen Themas nutzte ich die Polizeigewalt-Statistik von Mapping Police Violence8. Diese freie Organisation dokumentiert Fälle in den Vereinigten Staaten, in denen Menschen während dem Zusammentreffen mit der Polizei zu Tode kommen. Sie sind eine Gruppe von Personen verschiedener Hautfarben und Geschlechter, die Zeitungsberichte, Pressemitteilungen der Polizei und andere, genau angegebene, Quellen zusammenstellen und in einer großen Liste veröffentlichen. In dieser Liste findet man genaue Angaben zu den Getöteten: Deren Namen, Geschlecht, „race‘‘, bewaffnet oder nicht, Datenquelle, und andere. Wir in Deutschland verwenden den Begriff „Race‘‘, also „Rasse‘‘ für Menschen nicht mehr, erklärte ich, da dieses Wort Verbindungen zu unserer NS-Vergangenheit evoziert, und weil wir alle eine „Human race‘‘ sind. In den Vereinigten Staaten aber ist „race‘‘ ein gängiger Begriff, der von Menschen aller Hautfarben benutzt wird.

Dann zeigte ich den Studierenden, wie man — auf Basis von den oben genanten nachprüfbaren Daten — herausfinden kann, wie viele Menschen welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welchen Alters, usw. durch die Polizei getötet werden (in den Vereinigten Staaten). Es stellte sich heraus, dass zwischen 24 % und 28 % der Getöteten „black‘‘ sind, also Afroamerikaner. Die Schwankung erklärt sich dadurch, dass es eine Gruppe von „unkown‘‘ gibt, bei denen die Hautfarbe unbekannt ist. Ich erklärte dann, dass man bei einer Bevölkerungsrate von 13 % Afroamerikaner und -amerikanerinnen sagen kann, dass etwa doppelt so viele „blacks‘‘ wie andere zu Tode kommen.

Zu meinem Bedauern gab es hierüber bereits einen Aufruhr, weil einige Studierende der Überzeugung waren, es sollten viel mehr sein. Dabei habe ich den Studierenden vorgeschlagen, eine eigene Recherche zu machen, und wenn sie auf der Basis von nachprüfbaren Daten erfolgt, versprach ich, ihnen die Zeit zu geben, ihre Ergebnisse zu präsentieren. Enttäuschenderweise hat niemand von jenen, die sich so echauffierten, den Versuch, meine „rassistische‘‘ Datenanalyse sachlich fundiert zu widerlegen, auf sich genommen.

Hier sehen wir ein erstes Symptom der Krankheit, die zur Illusion führt, dass eine ideologische Überzeugung mehr wert sei als eine trockene Analyse, die auf nachprüfbaren Daten basiert. Vorstellungen eines Täter/Opfer-Verhältnisses triumphieren offenbar nicht selten über nachprüfbare Fakten.

Schlimmer wurde es, als ich zeigte, wie viel mehr Männer durch die Polizei zu Tode kommen als Frauen — das Verhältnis ist 18 mal mehr Männer als Frauen, basierend auf den Daten von Mapping Police Violence. Der daraufhin folgende Aufruhr ließ mich Dinge hören wie:

  • Es seien Männer, die Männer töteten. „Ist das deshalb weniger schlimm?‘‘, fragte ich.

  • Männer seien gewalttätiger als Frauen, hieß es. „Straftaten mit Gewaltanwendungen werden von Männern 8-mal häufiger begangen als von Frauen, nicht 18-mal.‘‘, antwortete ich, basierend auf einer BKA-Statistik.

  • Ich dürfe das nicht Sexismus nennen. Meine Antwort: „Ich habe das Wort Sexismus gar nicht verwendet. Aber warum ist die Tötung von 18-mal mehr Männern kein Sexismus, beziehungsweise, warum darf ich das nicht sagen?‘‘ – fragte ich, bekam aber keine Antwort.

  • Dann wurde gesagt, andere Literatur-Quellen würden etwas anderes sagen. Ich wies darauf hin, dass ich diese Quellen kenne, und dass sie keine Verweise zu nachprüfbaren Datenerhebungen aufweisen. Und so ging es weiter.

Es quält mich immer noch, wenn ich daran zurückdenke. Was ich tun wollte, war, Studierenden zu zeigen, wie sie auf Basis nachprüfbarer Daten etwas über die Welt lernen können. Jedoch waren einige der Studierenden so weit ideologisch indoktriniert, dass sie weder realweltliche Daten zu akzeptieren in der Lage waren, noch dass sie sich die Mühe machen würden, die hieraus gewonnenen Erkenntnisse kritisch und auf wissenschaftlicher Basis zu prüfen.

Ich habe den Kurs deshalb mitten im Semester abgebrochen. An dieser Abteilung werde ich nicht mehr lehren, nachdem die Verantwortlichen zunächst den wütenden, mit Falschheiten versehenen Anklage-E-Mails geglaubt hatten. Bedauerlicherweise musste ich sie erst überreden, sich die Videoaufnahme anzusehen, die mit dem Wissen und dem Einverständnis der Studierenden angefertigt worden war. Jedenfalls stellten sich die Falschbehauptungen als eben solche heraus, wenn man die Aufnahme in Betracht zieht. Es ist beschämend für eine Universität, wenn sie es erlaubt, unwahre Behauptungen einem widerlegenden Video-Nachweis gleichzustellen. So kommt es mir jedenfalls vor. Eine Studentin rief mich weinend an und sagte, sie hätte Angst, ihre Meinung zu diesem Vorfall zu sagen. Sie sei bereits schon schwer angegriffen worden, weil sie erwähnt hatte, dass sie an Gott glaube.

Etwas weniger Freiheit, bitte! Die oben beschriebenen Zustände sind der Tod wissenschaftlicher Klarheit, wenn wir es zulassen, dass Ideologien, die mit Emotionalität, ja Hass und einem Gefühl moralischer Überlegenheit, wissenschaftliche Erkenntnisse überlagern. Daraus schließe ich, dass die ideologische Überzeugung etwas weniger Freiheit haben sollte, wenn sie sich gegen nachweisbare Daten stellt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Corona-Diktatur‘‘. Wir wissen, dass das Max-Planck- Institut in einer Meta-Studie klar herausgearbeitet hat, dass korrekt getragene FFP2-Masken nicht nur die Verbreitung von Corona-Viren deutlich hemmen, sondern dass sie auch die Masken Tragenden sehr gut schützen.9

Am Ende des Tages sollten wir — das ist meine Position — uns selbst genauer überlegen, was wir sagen. Wenn Luce Irigaray Männer als „Zuhälter und Vergewaltiger‘‘ bezeichnet, und Logik als „Aristotelisch und somit männlich und abzulehnen‘‘10, dann nimmt sie sich die Freiheit, sich gegenüber einer Gruppe von Menschen herabwürdigend, feindselig und zerstörerisch zu äußern. Eine solche Freiheit beschränkt — nein, verhindert — einen dringend notwendigen Diskurs, der wiederum für die Freiheit aller Menschen von essentieller Bedeutung ist. Es würde mich interessieren, was mit einer Person geschähe, wenn sie sich in derselben Weise über Geflüchtete äußerte.

Wenn Marley K. schreibt: „Yes My Dear, All White People Are Racists‘‘11, dann verurteilt sie Menschen auf Grundlage derer Hautfarbe. Nach meinem Verständnis nennt man diese Haltung Rassismus. Aus der wissenschaftlichen Praxis kann ich berichten, dass — besonders im ingenieurtechnischen Bereich — es vollkommen normal ist, dass sich Menschen aus allen Regionen der Welt zusammentun, um gemeinsam an schwierigen Problemen zu arbeiten. Selbst während des Kalten Krieges haben Menschen aus den Vereinigten Staaten, Deutschland, Russland und der Schweiz gemeinsam am CERN an physikalischen Problemen gearbeitet,12 ohne dass es Konflikte gab, die über gewöhnliche, zwischenmenschliche Kabbeleien hinausgehen. Während meiner Lehrtätigkeit treffe ich Studierende von allen Kontinenten; manche sind religiös, andere nicht; manche sind Christen, Muslime oder Juden; nicht wenige sind Hindus, Buddhisten oder Atheisten, und viele sind — wie ich — nicht religiös, aber äußerst neugierig, zu lernen, wer wie und an was glaubt. Ich hatte viele für mich sehr lehrreiche Gespräche mit Studierenden, die mir über ihre Kultur und ihren Glauben berichteten. All diese wundervollen Gelegenheiten, etwas über Menschen zu lernen, werden zunichtegemacht, wenn man behauptet, „alle weißen Menschen sind Rassisten‘‘. Hier hört die Freiheit meines Erachtens auf!

Daher frage ich: Können wir alle nicht ein bisschen weniger Freiheit haben? Ich bezweifle, dass es wirklich echte Anarchisten und Anarchistinnen gibt; zumindest nicht solche, welche den Ursprung des Begriffs kennen und ihm folgen: An ist die Negation/Umkehrung/Verneinung und Arché ist der Ursprung, die Begründung, der Grund, die Rechtfertigung. Eine An-Archie ist somit ein Gesellschaftsmodell, welches keine Rechtfertigung für dessen Machtstruktur voraussetzt. Demokratien und selbst Mon-Archien sind bekannte Gegenbeispiele. Diese Erklärung für die An-Archie ist die Basis für sämtliche despotischen Systeme, für alle Diktaturen, für den Totalitarismus und, wenn wir ehrlich sind, auch für den Kommunismus, zumindest in den Formen, in denen er sich bisher manifestiert hat. Ja, es gibt kommunistische Kommunen, die funktionieren — sie funktionieren allerdings nur deshalb, weil kein Mitglied sich gegen die Grundstruktur der dahinter liegenden Ideologie stellt. Eine national umspannende Implementierung erfordert dagegen die Unterdrückung der „Dissidenten/Dissidentinnen‘‘. Siehe Sowjetunion, DDR, Vietnam, Nordkorea, Kuba, Venezuela, usw… Wer’s nicht glaubt, soll mir gerne ein Gegenbeispiel nennen. Ich warte …

Vielleicht können wir alle unsere Freiheit einschränken, ja, ein bisschen davon abgeben, damit andere ebenfalls frei sein können. Vielleicht können wir anerkennen, dass Freiheit nicht bedeutet, dass wir konsequenzlos tun können, was wir wollen. Vielleicht gelingt es uns, zu verstehen, dass Freiheit eine Selbsteinschränkung erfordert. Der große Philosoph und Selbstfesselungskünstler Bazon Brock13 hat uns gelehrt, wie es geht: Nichts tun ist eine aktive Handlung. Etwas Wichtiges zu unterlassen ist so unendlich viel schwieriger, als es zu tun. Nicole Stratmann schreibt über Bazon Brock: „Das Leben ist keine Mathematikaufgabe, die man dadurch löst, daß man ihre Logik entschlüsselt. Denken und Sein, Entwurf und Handlung können nicht — auch nicht mit aller Gewalt — in eins gezwungen werden. Diese Differenzerfahrung steht im Zentrum des Brockschen Denkens. Sie weist nicht nur auf eine problemreiche Offenheit, sondern behauptet eine bemerkenswerte Selbstbeschränkung, eine Selbstfesselung, die hindern soll, die Wirklichkeit unter das Denken zu zwingen..‘‘14

Ich sage: Wer in der Lage ist, sich selbst zu fesseln, um in Ketten seine Freiheit zu genießen, kann sie mit allen teilen, die es würdig und wert sind, freiwillig in Gefangenschaft zu gehen. Wer das nicht kann, gerät unter die Knechtschaft einer Illusion, deren Verheißung einer Freiheit ein Traum bleibt, während das Erwachen von diesem Traum die Erkenntnis ist, lebendig begraben worden zu sein.

Wenn Sie möchten, hole ich eine Schaufel. Reto Schölly

www.reto-schoelly.com

P.S.:
Was tun? Meine Nachricht an Ideologen und Ideologinnen, Verschwörungsglaubende und Wissenschaftszweifler und -zweiflerinnen:

1. Hört auf, uns Forschende vor unseren Institutsgebäuden aufzulauern und uns zu beschimpfen, dass wir angeblich „Chips‘‘ herstellen und sie in Impfdosen packen, um Euch zu überwachen. Es steht Euch nicht zu, Leute anzugreifen, bloß weil Ihr nichts über jenes wisst, worüber Ihr Euch aufregt! Solange Ihr Instagram, Facebook, Twitter & Co. benutzt, brauchen wir für die Überwachung übrigens keine extra Chips. Und ja, es gibt in der Tat Mikrocomputer, die den Gesundheitszustand eines Menschen überwachen können. Diese Geräte kosten Millionen Euro! Wer glaubt Ihr, der Ihr seid, dass Ihr so etwas umsonst bekommt? Niemand gibt Euch ein solches System heimlich und gratis! Bill Gates ist reich, aber nachdem er eine kleine Stadt verchippt hat, kann er Bankrott anmelden.

2. Überlegt Euch bitte, ob jemand, der etwas Überzeugendes auf Facebook schreibt, es wirklich besser weiß, als jemand, der jahrzehntelang studiert und geforscht hat.

3. Hört auf, davon auszugehen, dass Euch jedermann und dessen Schwester ans Leder will! Masken nerven, besonders wenn man wie ich eine Brille trägt. Fünf Minuten im Winter draußen, und ich orientiere mich nur noch per Gehör, weil ich nichts mehr sehen kann. Aber lieber vorübergehend blind sein, als für immer tot.

4. Wenn Ihr an etwas glaubt, und eine belegte Datenlage etwas anderes sagt, zieht Euren Kopf aus Eurem Hintern und stellt Euch den Tatsachen!

5. Wissenschaft ist keine Meinung! Lasst Euch das in Spiegelschrift auf die Stirn tätowieren, sodass Ihr es immer lesen könnt, wenn Ihr Euch in Selbstbeweihräucherung auf Eurem hohen Ross vor den Spiegel stellt, um Eure eigene „moralische Überlegenheit‘‘ zu bewundern.

5 Hier ein Bericht von der Welt: https://www.youtube.com/watch?v=3Y7pNU03i-o

6 Im Sinne von Karl Poppers „Logik der Forschung‘‘.

10 Siehe etwa: Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, oder Luce Irigaray: Spiegel des anderen Geschlechts.

12 Das lässt sich erfahren, wenn man mal eine Tour am CERN bucht. Es lohnt sich!

13 Hier ist die beste Beschreibung von Bazon Brocks Philosophie, die ich kenne: https://www.amazon.de/Bazon-Brock-Selbstfesselungsk%C3%BCnstler-Einf%C3%BChrung- Unterlassens/dp/3929742756

14 Nicole Stratmann: Bazon Brock. Der Selbstfesselungskünstler. Einführung in eine Ästhetik des Unterlassens. VDG Weimar, 4. Auflage 2008. S. 11.