Cancel-Kultur: Die neue Inquisition

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Ein Beitrag von Thomas Zweifel

Das Jahr begann schon ominös. Der Demokratische Abgeordnete Emanuel Cleaver beendete das offizielle Neujahrsgebet im US-Kongress mit dem Wort „Amen“—um feierlich anzufügen: „…and A-Woman.“

Dem Parlamentarier war offensichtlich entgangen, dass „Amen“ vom hebräischen Wort „la’amin“ (glauben) stammt und nichts, aber auch gar nichts mit Männern oder #MeToo zu tun hat.

Der Faux-pas war nicht nur peinlich und eines Kongress-Mitglieds unwürdig, sondern auch symbolisch für einen Zeitgeist. Im Zuge der sogenannten „Equity“ (das heisst eigentlich Eigenkapital, aber nun auch Gerechtigkeit) verzerren wohlmeinende Aktivisten oder um Wählerstimmen buhlende Politikerinnen (und natürlich Politiker) die Sprache, die Geschichte und schliesslich die Wirklichkeit. Die Konsequenzen sind weitreichend.

Dass wir alle in der Pflicht stehen, unseren Rassismus, Sexismus und andere Vorurteile aufzudecken und möglichst abzubauen (sie völlig abzulegen ist unrealistisch), steht ausser Frage. Aber wenn “Black Lives Matter” zum ausschliesslichen Gebot wird—und Musiker, die „All Lives Matter“ twittern, einen Internet-Shitstorm auslösen und exkommuniziert (canceled) werden, weil sie damit das historische Leiden der Schwarzen verharmlosen, dann ist das eben nicht mehr „Equity“.

Wenn zornentbrannte Mobs in Grossbritannien Statuen von Winston Churchill herunterreissen, weil er nicht nur Hitler und die Nazis besiegte, sondern als Premierminister des damaligen britischen Empires auch die Kolonialpolitik der Krone vertrat, dann verzerrt das die Geschichte.

Wenn ein kanadisches Gericht verfügt, dass Teens ihre Geschlechtsumwandlung—gegen den Willen ihrer Eltern—wählen können, dann mutet es Minderjährigen zuviel Verantwortung zu.

Wenn die New York Times grosse amerikanische Präsidenten—Washington, Jefferson, Lincoln (dem die USA die Abschaffung der Sklaverei verdanken) und Roosevelt—als Rassisten bezeichnet, während sie den offenkundigen Rassismus des Gründers ihrer eigenen Zeitung totschweigt, dann ist das Doppelmoral.

Wenn die Sheffield University in England angehende Physiker und Ingenieure lehrt, dass Sir Isaac Newton, der Grossvater der modernen Physik, „vom Kolonialismus profitierte“ (Newton verlor eine £20‘000 Investition im Bankrott der South Sea Firma), dann sollten wir wie Dan Shueftan an der Universität Haifa den Trend hinterfragen: „Gehen wir zu weit in der richtigen Richtung? Könnte das zuviel einer guten Sache sein?“

Solche Identitätspolitik tut genau das, was sie zu bekämpfen versucht (oder vorgibt), so Tamara Wernli im Nebelspalter: Sie sät nicht ein Wir, sondern ein „Wir—und sie“: Ausgrenzung, Spaltung, Hass. Der Schuss geht nach hinten los.

Selektiver (Anti-)Rassismus

Im Mai bestätigte der US-Senat Kristen Clarke als neue Leiterin der Zivilrechtsabteilung im Justizdepartement. Die Abstimmung war heftig umstritten, 51:49—alle 50 Demokraten, plus die Republikanerin Susan Collins aus Maine, stimmten geschlossen für die Kandidatin.

Der Mehrheitsführer des Senats Chuck Schumer nannte die Wahl der schwarzen (wenn man das noch sagen darf) Beamtin am Jahrestag der Tötung George Floyds durch den weissen Polizisten Derek Chauvin „besonders ergreifend und angebracht.“

Vor der Abstimmung befragten die Senatoren Clarke zu einem Brief, den sie 1994 mitunterzeichnet hatte und der in Harvards Zeitung erschienen war. Laut dem Brief hätten schwarze Menschen „höhere physische und geistige Fähigkeiten“ als weisse (oder auch gelbe oder rote?). Sie sagte aus, der Brief damals sei ironisch gemeint gewesen. Clarke hat offenbar einen Sinn für Humor. Hätte eine Weisse das Umgekehrte behauptet, wäre das nicht witzig, sondern rassistisch gewesen und hätte zu Recht Stürme der Entrüstung ausgelöst.

Manchmal sind die Konsequenzen weniger harmlos. Im April, zeitgleich mit der Urteilsverkündung zu George Floyds Tötung, griff in Columbus die 16-jährige Schwarze Ma’Khia Bryant zwei andere schwarze Teens mit einem Messer an. Der zur Stelle gerufene Polizist konnte die beiden Mädchen im letzten Moment vor dem Tod retten, indem er die versuchte Mörderin mit einem Schuss niederstreckte. Das einzige Problem: Der Polizist war weiss. Und die Pressesprecherin des Weissen Hauses verurteilte die Intervention des Polizisten umgehend als „rassistische Tötung“: „Wir wissen, dass Polizeigewalt unverhältnismäßig viele schwarze und lateinamerikanische Menschen in den Gemeinden trifft und dass schwarze Frauen und Mädchen, wie auch schwarze Männer und Jungen, höhere Raten von Polizeigewalt erleben.“ Wenn Weisse töten, sind reflexartige Vorurteile erlaubt.

Wir sind alle gleich—nur Manche noch gleicher

Sollten dann auch Statuen von Martin Luther King niedergerissen werden, weil er das heutzutage politisch inkorrekte Wort „Negro“ („Neger“) gebrauchte? King, der bekanntlich sagte, „Du sollst einen Menschen nicht aufgrund seiner Hautfarbe beurteilen, sondern aufgrund des Inhalts seines Charakters,“ würde sich im Grab umdrehen, wenn er sähe, welche Ausgeburten im hehren Namen des Anti-Rassismus entstanden sind.

Sollten wir auch Beatles-Songs boykottieren, weil die Band bekanntlich aus vier weissen Männern bestand und somit nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch war? Die Bezichtigungen würden kaum mehr aufhören.

Die renommierte Brigham and Women‘s Klinik in Boston wird ab diesem Frühjahr eine „Vorzugs-Behandlung aufgrund der Rasse“ eines Patienten einführen. Wenn Sie die richtige Hautfarbe haben—nämlich schwarz oder Latinx—dann bekommen Sie eine bessere Therapie. Diese „Pilot-Initiative“ soll ein „Reparations-Framework“ bieten, das laut seinen Autorinnen Bram Wispelwey and Michelle Morse in Krankenhäusern USA-weit lanciert werden soll. CNN nennt das „Rassenkorrektur.“

Die schwarze Bürgermeisterin von Chicago, Lori Lightfoot, kündigte diese Woche an, sie gewähre ab sofort „Priorität für POC Reporters“ (POC steht für People of Color, also farbige Journalisten).

In der Tat müssten Anti-Rassisten, die auf „Rassenkorrektur“ pochen, erst einmal erklären, wieso in den USA Kinder afrikanischer Einwanderer deutlich erfolgreicher sind als Afroamerikaner; warum asiatischstämmige Amerikaner (auch sie sind People of Color) mit durchschnittlich $87‘194 Haushaltseinkommen rund 23 Prozent mehr verdienen als Weisse; und weshalb gerade Afroamerikaner im Musik- und Sportbetrieb—beide von Weissen geschaffen—reüssieren.

Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder

Dass Migros letzten Sommer sogenannte „Mohrenköpfe“ aus dem Sortiment verbannt hat, ist natürlich sinnvoll. Und bekanntlich leidet die Gesundheitsversorgung in vielen Ländern unter Ungleichheit und Stereotypen.

Aber nun beklagt eine Petition in England „rassistische Elemente“ im in Schulen verabreichten Essen, weil „zuviel Milchprodukte für 65 Prozent der Weltbevölkerung, die unter Laktose-Intoleranz leiden, unbekömmlich“ seien, so die Antragstellerin im Bezirksrat Brighton und Hove. Milch ist sozusagen zu „weiss“.

Das ist erst der Anfang. Sozial-Emotionales Lernen (SEL), ein Lernprogramm für Kinder in den USA, ist zu einem Vehikel für Identitäts-Politik und „Kritische Rassen-Theorie“ geworden. In einem Video sagte Yale-Aktivistin Dena Simmons, Ed.D., SEL sei jetzt nichts weiter als „weisse Vorherrschaft mit einer Umarmung.“ Deshalb, so Simmons, „rate mal, was der Lehrplan ist? Ein weißer Herrschafts-Lehrplan.“

„Alles, was du tust, ohne eine Sklaverei-gegnerische Linse, eine antirassistische Linse, eine Linse der Rassengerechtigkeit anzuwenden,“ sagte Simmons, all das „kann als Waffe der weißen Vorherrschaft benutzt werden.“

Das Erziehungsdepartement im US-Bundesstaat Arizona hat ein “Equity Schoolkit” geschaffen, das unter anderem behauptet, Babies zeigten erste Anzeichen von Rassismus im Alter von drei Monaten, und weisse fünf-jährige Kinder „bleiben stark voreingenommen zugunsten des Weiss-seins.“ (Das Amt prüft nun seine „Equity“-Schulmaterialien.)
Unterdessen wollen die Erziehungsdepartemente in Kalifornien und Oregon ein neues Mathematik-Programm einführen; dieses weist unter anderem darauf hin, dass der Fokus auf das Erkennen der richtigen Antwort ein Beispiel für „Weiße Vorherrschaft“ im Klassenzimmer ist. „Das Festhalten an der Idee, dass es immer richtige und falsche Antworten gibt,“ steht da, „verewigt die Objektivität sowie die Angst vor Konflikten.“

Ein anderes Dokument ruft dazu auf, die „Ethnomathematik“ in den Mittelpunkt zu stellen, einen „kulturell nachhaltigen Mathematikraum“ zu gestalten und die Schüler zu unterstützen, „ihre mathematische Abstammung zurückzufordern.“

Die Fakultät der altehrwürdigen Universität Princeton—wo einst Einstein lehrte—hat im April beschlossen, Griechisch und Latein als Voraussetzung für ihre Klassik-Studierenden zu entfernen, um „Systemischen Rassismus“ zu bekämpfen.

An der Oxford Universität will die Musik-Fakultät den Lehrplan ändern, nachdem Mitarbeitende im Zuge der „Black Lives Matter“ Bewegung bemängelten, der aktuelle Lehrplan konzentriere sich auf „weiße europäische Musik aus der Sklavenzeit“, und sei Ausdruck der „Komplizität mit der weißen Vorherrschaft“.

Und die Fakultät der Cornell beschloss, Verbrechensmeldungen auf dem Campus müssen ab sofort farbenblind sein, weil sich frühere Meldungen „erschreckend ignorant gegenüber dem Trommelschlag der anti-Schwarzen Gewalt“ angefühlt hätten, so der Senat der Elite-Uni. Sollten Sie Zeuge einer Vergewaltigung werden, dürfen Sie der Polizei die Hautfarbe des Täters nicht mehr nennen. Dieselbe „anti-rassistische“ Behinderung der Justiz geschieht an Brown, Illinois, Minnesota und anderen amerikanischen Universitäten. (Auch in der Schweiz sieht sich die Polizei „racial profiling“-Vorwürfen ausgesetzt.)

Widerstand von Eltern und Lehrpersonen

Manche Lehrer und Eltern verbitten sich solchen Aktivismus; sie sehen ihn als eine Art Neo-Rassismus. Dana Stangel-Plowe verliess im Juni die renommierte Dwight-Englewood School in New Jersey. „Die Schüler kommen in mein Klassenzimmer“, schrieb die langjährige Englischlehrerin, „und akzeptieren diese Theorie als Tatsache: Menschen, die mit weniger Melanin in ihrer Haut geboren wurden, sind Unterdrücker, und Menschen, die mit mehr Melanin in ihrer Haut geboren wurden, sind unterdrückt. Männer sind Unterdrücker, Frauen sind unterdrückt, und so weiter.“ Die Studenten „sind starr und verschlossen geworden,“ , so Stangel-Plowe, „unfähig oder nicht bereit, alternative Perspektiven in Betracht zu ziehen.“

„‘Antirassistisches‘ Training klingt rechtschaffen, aber es ist das Gegenteil“, sagt auch Paul Rossi, Mathematiklehrer (äh, -lehrperson) an der Grace Church High School in Manhattan. „Es verlangt von Lehrern wie mir, Schüler aufgrund ihrer Rasse unterschiedlich zu behandeln.“

„Die Schüler werden unter Druck gesetzt,“ so Rossi, „ihre Meinungen denjenigen anzupassen, die allgemein mit ihrer Rasse und ihrem Geschlecht assoziiert werden, und individuelle Erfahrungen, die nicht mit diesen Annahmen übereinstimmen, zu bagatellisieren oder abzutun.“ So werden „bei Schülern, die als ‚unterdrückt‘ gelten, Abhängigkeit, Ressentiments und moralische Überlegenheit kultiviert.“ Rossi wurde seit seinen Äusserungen vom Rektor freigestellt.

Im März hatte die Schulleitung die Kinder ermutigt, Wörter wie „Mami“, „Papi“ oder „Eltern“ nicht mehr zu verwenden, da solche Begriffe auf „Annahmen“ über das Zuhause der Kinder beruhen. Ein ausführlicher Leitfaden empfiehlt, stattdessen die Begriffe „Erwachsene“, „Leute“, „Familie“ oder „Erziehungsberechtigte“ zu verwenden.

Einige Eltern haben ihre Kinder stillschweigend exmatrikuliert—andere weniger stillschweigend. Andrew Gutmann, dessen Tochter seit dem Kindergarten vor sieben Jahren an der Brearley zur Schule ging, schrieb in einem offenen Brief, er habe sie nun schweren Herzens aus der Privatschule für Mädchen in Manhattan genommen. Weissen Kindern werde beigebracht, sich für ihre Herkunft schuldig zu fühlen.

„Wenn es der Verwaltung mit ‚Vielfalt‘ wirklich ernst wäre,“ schrieb Gutmann, „würde sie nicht auf der Indoktrination ihrer Schüler und deren Familien zu einer einzigen Denkweise bestehen, die vor allem an die chinesische Kulturrevolution erinnert.“

Transphobie und (Anti-)Sexismus

Der Aktivismus macht auch vor der Sexualität nicht Halt. Im Bundesstaat New York berät das Parlament über eine Gesetzesvorlage genannt „Sex Education for Change“. Tritt das Gesetz in Kraft, werden Achtjährige über Pubertät, Masturbation und die Idee, dass es nicht mehr männlich und weiblich, sondern mehrere, fließende Geschlechterwahlen gibt, unterrichtet.

Die britische Huddersfield-Universität verwarnte einen Musik-Professor für „transphobische“ Tweets. Der 50-jährige Professor wurde wegen „sexueller, homophober, rassistischer oder anderer rechtswidriger Belästigung eines Studenten“ angeklagt. Er habe gegen die Richtlinien der Universität zu sozialen Medien und Transgender-Gleichstellung verstoßen. In einem von der Anklage zitierten Tweet hieß es: „Jede Transfrau ist Teil der gleichen Geschlechterklasse wie ich. Wir sind alle Männer.”

Universitätsbeamte luden den Musiklehrer zu einer Disziplinaranhörung vor. Später behaupteten sie, er sei möglicherweise „beleidigend“ und respektlos gegenüber den „Gefühlen“ anderer gewesen. (Der Professor legte erfolgreich Berufung ein; der unabhängige Adjudikator für Hochschulbildung wies die Universität an, sich zu entschuldigen und dem Lehrer £800, rund CHF 1‘000, zu zahlen.)

Fans verbrannten auch schon mal Bücher von J.K. Rowling wegen ihrer „Transphobie“. Die berühmte Harry Potter Autorin hatte lediglich gesagt, das weibliche oder männliche Geschlecht sei kein gesellschaftliches Konstrukt, sondern real.

Auch wenn Bücherverbrennungen unheimliche Erinnerungen an Nazi-Praktiken wecken, ist die zugrundeliegende Ideologie keineswegs die einer Randgruppe. Im März schrieb CNN allen Ernstes: „Es ist nicht möglich, die Geschlechtsidentität einer Person bei der Geburt zu kennen“. Es gebe „keine einheitlichen Kriterien für die Zuweisung des Geschlechts bei der Geburt.“

Der internationale TV-Sender erhielt umgehend die Quittung in den sozialen Medien. Twitter-User Craig Seymour schlug eine einfache Lösung vor: „Ich bin kein Arzt, @CNN, aber wenn Sie unter der Taille nachschauen, bekommen Sie vielleicht einen Einblick.“

Auch in Europa: Gerechtigkeit ist blind—oder einäugig

Wenn Sie jetzt denken, solche Dinge passieren nur in den USA: weit gefehlt. Ein Beispiel: Die junge schwarze Lyrikerin Amanda Gorman wurde mit ihrem Auftritt im Stil der Spoken Word Poetry bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Biden weltberühmt und ihr Gedicht in mehrere Sprachen übersetzt. Der holländische Verlag Meulenkamp beauftragte in Absprache mit Gorman die Booker-Preisträgerin Marieke Lucas Rijneveld, 29, weiss, non-binär, mit der Übersetzung.

Drei Tage später kritisierte die schwarze Aktivistin Janice Deul diese Wahl in De Volkskrant: „Nichts gegen Rijnevelds Qualitäten,“ schrieb Deul, „aber warum nicht einen Spoken Word Artist nehmen, jung, weiblich und unapologetically Black wie Gorman?“

Nach Deuls Kritik und einem Sturm in den sozialen Medien gab Rijneveld den Auftrag „schockiert“ wieder ab: „Ich verstehe die Leute, die sich von der Entscheidung des Meulenhof-Verlags verletzt fühlen.“ Sie habe es als wichtigste Aufgabe gesehen, Gormans Stärke, Tonfall und Stil zu treffen. „Doch jetzt sehe ich, dass ich zwar in einer Position bin, das so zu sehen, viele andere jedoch nicht.“ Der Verlag engagierte dann für die Übersetzung ein Team.

Wieso kann eine Weisse nicht eine Schwarze übersetzen? (Mein Buch Der Rabbi und der CEO wurde von einer Nicht-Jüdin ins Deutsche übersetzt—und war mindestens so gut wie das Englische Original.)

Die Sprachpolizei der Berliner SPD diskutierte kürzlich darüber, ob man nicht den Begriff „Clan-Kriminalität“ aus dem Wortschatz tilgen solle, da er rassistisch sei. Nach dieser Logik müsste man dann auch den Begriff „Mafia“ ausmerzen, da er alle Italiener (oder Russen) stigmatisieren könnte.

Wenn es zum Beispiel um Gewalt, Sexismus, Rassismus oder Kriminalität geht, nennen Medien oder Polizei die Urheber oft nicht mehr beim Namen—wenn diese Migrationshintergrund haben. Erstmals deutlich wurde das nach der Kölner Silvesternacht 2015, als die Polizei Informationen über die Herkunft der Frauenbelästiger unterdrückte. Auch bei antisemitischen und homosexuellenfeindlichen Gewalttaten geben sich Polizisten oder Journalisten oft so, als wisse man nichts Genaueres über die Täter, sobald diese weder „weiss“ noch rechtsextrem sind.

Die Selbstzensur greift um sich: Eine Hochschule überpinselt auf seiner Fassade ein Gedicht von 1951, weil es „sexistisch“ sei. Eine Kabarettistin wird wegen „Rassismus“- und „Antisemitismus“-Vorwürfen vom Hamburger Literaturfestival ausgeladen. Linke Studierende verhindern den Auftritt des US-Generals Petraeus an der ETH Zürich: Redefreiheit gilt nur für diejenigen, deren Sicht politisch genehm ist.

Woke & VUCA: Ursachen & Auswirkungen

Wie konnte es zu alldem kommen? Eine umfassende Analyse ist hier nicht möglich, ein paar Stichworte müssen genügen. Der Auslöser war die willkürliche und unnötig brutale Tötung des Schwarzen George Floyd—aber die ursächlichen Trends sind älter. Die Globalisierung und das Internet haben seit langem die Identität ethnischer Gruppen aufgeweicht. Das alles in einem Kontext, der oft „VUCA“ genannt wird: einer Welt der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz. Kurz gesagt, eine allgemeine Desorientierung, auf die einige Gruppen mit Identitäts- (oder identitärer?) Politik reagieren, um sich durch Abgrenzung von Anderen wieder eine klare Identität zu verschaffen.

Dann: Die sozialen Netzwerke, kombiniert mit dem Handy (5.27 Milliarden Menschen haben eins), multiplizierten diese Trends, indem sie unzähligen Menschen die Möglichkeit gaben, alles Mögliche zu Liken und zu Sharen. Nutzer posten über 41 Millionen Nachrichten auf WhatsApp und 500 Minuten Video auf YouTube—pro Minute. Da ist viel fake news dabei—man weiss nicht mehr, welchen Nachrichten oder Medien man noch trauen kann. Und die Corona-Pandemie hat die Nutzung der sozialen Medien nur noch verstärkt.

„Woke“ als Dogma sagt, dass die USA in Sünde (nämlich durch Sklaverei) geboren ist, dass der imperialistische „weisse“ Westen schuld ist am Leid der Welt, dass die USA (und die Weissen insgesamt) ihre historische Schuld nur begleichen können, indem sie „Reparationen“ leisten, dass nicht mehr Ihre Leistung zählt, sondern Ihre Herkunft oder sexuelle Präferenz, dass es wichtiger ist, Schwarze oder Transgender-Mitglieder anzustellen als diejenigen, die die grösste Kompetenz mitbringen, welche Farbe oder private Vorliebe sie auch immer haben mögen.

In dieser Sicht gilt nicht mehr, dass ich mein Leben gestalten kann, dass ich eine Wahl habe. Ich bin nun vielmehr Sklave meiner Hautfarbe, Geburt, Vergangenheit. Andererseits kann ich im Zuge der „gender fluidity“ meine geschlechtliche Identität wählen wie einen Avatar. Mein Geschlecht ist à la carte. Wenn ich als 15-Jährige eine Geschlechtsumwandlung will, weil ich mich wie ein Knabe in einem Mädchenkörper fühle—so das Gerichtsurteil in Kanada—, dann haben meine Eltern zu dieser Entscheidung nichts mehr zu melden.

Ich will nicht über-dramatisieren, aber: Mit solch eifrigem Über-Liberalismus läuft unsere Gesellschaft (und der Westen allgemein) Gefahr, vor lauter Dogma und „Rassismus-Korrektur“ unsere Grundwerte zu verlieren. Wenn Herkunft oder Hautfarbe einer Person mehr zählen als ihre Arbeit, Leistung, Kreativität und Innovation, dann fallen wir wieder hinter die Errungenschaften der letzten Jahrhunderte—Aufklärung, Selbst-Bestimmung, Chancen-Gleichheit, Selbst-Verwirklichung, Freiheit, Pluralismus und Toleranz, um nur einige zu nennen—zurück. Wie der amerikanische Philosoph Victor David Hansen sagte: “Wieviel Ruin bleibt uns noch?” Wieviele Grundpfeiler unserer Gesellschaft können wir aufgeben, bevor wir uns als Gesellschaft selber verlieren?

Die geopolitischen Folgen sind unabsehbar. Denn die Feinde des Westens haben keinerlei Skrupel über ihren Rassismus oder Sexismus, sie unterdrücken Frauen, sie halten Uighurische Muslime in Arbeitslagern, sie richten Andersdenkende hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie können sich Intoleranz und Inquisition, Fremdenhass und Frauenhass, Pogrome und Ausmerzung “Ungläubiger“ leisten—ihr Imperialismus ist unverhohlen und ohne Schuldgefühl. Und sie lachen sich ins Fäustchen, während der Westen sich in Selbstzweifeln verzehrt.

Dr. Thomas D. Zweifel ist unabhängiger Autor, u.a. von Communicate or Die—mit Sprache führen; Der Rabbi und der CEO: Was Führungskräfte von den Zehn Geboten lernen können; und Culture Clash 2.0. Nach zwei Jahrzehnten in New York lebt er mit seiner Familie in Zürich. Seine entfernte Verwandtschaft mit Zweifel-Chips ist nicht kommerziell relevant.