Udo Kelter
09.09.2025
- Einordnung
- Grundlagen
- Die epistemische Autorität von Albanese
- Wissenschaftsfreiheit der Eingeladenen
- Wissenschaftsfreiheit der Einladenden
- Anmerkungen
- Quellen
1. Einordnung
Auftritte von Politikern, die einen gewissen wissenschaftlichen Hintergrund haben oder sogar promoviert sind, an Universitäten führen seit Jahren immer wieder zu Protesten und Versuchen, diese Auftritte zu verhindern. Gleichzeitig wird regelmäßig eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit kritisiert. Ältere Beispiele sind die Auftritte von Dr. Marc Jongen und Dr. Thilo Sarrazin an der Universität Siegen, neuere die Auftritte von Mareike Wulf an der Universität Göttingen, von Christian Lindner an der Universität Leipzig und von Volker Beck an der Technischen Universität Berlin. Während die vorstehenden Beispiele Einzelfälle sind, die sich nicht wiederholt haben, kam es Anfang 2025 zu mehreren Einladungen bzw. Ausladungen von Francesca Albanese, United Nations Special Rapporteur on the occupied Palestinian territories, an deutschen Universitäten und anderen Institutionen.
Alleine durch die Vielzahl der Vorkommnisse wurden die Auftritte von Albanese zum meistdiskutierten einschlägigen Fall. An der LMU München wurde eine Buchung eines Raumes von der Uni-Leitung storniert, in dem Albanese einen Vortrag halten sollte. Laut der Süddeutschen deswegen, weil die beantragte Veranstaltung „nicht in eine wissenschaftliche Konferenz eingebunden“, also nicht wissenschaftlich sei, und weil „die LMU grundsätzlich keine Räumlichkeiten für allgemeinpolitische Veranstaltungen zur Verfügung stellt“. Gegen diese Nicht-Ein- bzw. Ausladung protestierten drei nicht der LMU angehörende Professoren in einem offenen Brief. Darin beschuldigen sie die LMU eines „direkten Affronts gegen die Grundsätze der akademischen Freiheit“(1). Der Antisemitismusbeauftragte von Bayern unterstützte hingegen die Ausladung. Die Freie Universität Berlin wurde nicht von solchen Skrupeln wie die LMU geplagt und plante zunächst einen Vortrag am 19.02.2025 mit dem Titel „Lebensbedingungen, die auf Zerstörung ausgelegt sind. Rechtliche und forensische Perspektiven auf den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen“. Hiergegen protestierten diverse Politiker, der Berliner Bürgermeister Wegner (CDU) forderte, den Vortrag abzusagen. Die Wissenschaftssenatorin Czyborra sah die Sicherheit jüdischer Studenten gefährdet. In den Niederlanden weigerte sich kurz darauf der Außenminister, Albanese, die einen Vortrag im foreign affairs committee des Parlaments halten sollte, zu empfangen, und zwar aufgrund ihrer abstoßenden Posts in den sozialen Medien. Kurze Zeit später hat das Parlament die Einladung widerrufen. Im März erschien ein offener Brief von 77 Völkerrechtlern, dessen Hauptthema die Pflicht Deutschlands war, an internationalen Institutionen auf der Grundlage von Völkerrecht mitzuwirken und Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs auszuführen. Die Unterzeichner sahen in Versuchen, die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese am Sprechen an Universitäten zu hindern, „einen Verstoß gegen die im Grundgesetz und auch in internationalen Gewährleistungen der Menschenrechte verankerte Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit“, womit implizit behauptet wird, Albanese sei Grundrechtsträger in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit. Die oben genannten älteren Beispiele und die Proteste gegen die Vorträge von Albanese bilden eine Kategorie von Vorfällen mit zwei wesentlichen Merkmalen: (a) Politiker oder „Aktivisten“, die einen gewissen wissenschaftlichen Hintergrund haben, aber nicht hauptberuflich als Wissenschaftler arbeiten, waren zu Vorträgen an Universitäten eingeladen. (b) Diese Vorträge wurden verhindert oder es wurde zumindest versucht, die Vorträge zu verhindern. Die Absagen bzw. Proteste wurden wiederum als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit kategorisiert. Solche Vorgänge erwecken in der Öffentlichkeit regelmäßig den politisch verheerenden Eindruck, universitäre Ressourcen und die Wissenschaftsfreiheit würden für politische Propaganda mißbraucht, und zwar mit Unterstützung der Universitäten. Das Vertrauen in die Wissenschaft und die Universitäten als Lieferant vertrauenswürdiger Fakten wird dadurch beschädigt. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für eine breite Unterstützung des Grundrechts auf Freiheit der Wissenschaft, das nur der kleinen Gruppe der Wissenschaftler zugute kommt. Daher haben solche Vorfälle auch erhebliche politische Auswirkungen. Die Vortragsabsagen werden in den öffentlichen Debatten regelmäßig pauschal als Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit bezeichnet. Derartige Vorwürfe sind unpräzise, offen bleibt z.B., wessen Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt wird und in welchem Sinne Einschränkungen vorliegen. Dieser Text untersucht, was dieser unpräzise Vorwurf konkret bedeuten kann und wie stichhaltig er ist. Hierzu rekapitulieren wir zunächst einige Grundlagen.
2. Grundlagen
Bei Vortragsabsagen kann sowohl die Wissenschaftsfreiheit der Eingeladenen als auch der Einladenden betroffen sein. Beide potentiell Betroffenen werden weiter unten separat erörtert.
2.1 Die Wissenschaftsfreiheit ist grundsätzlich keine uneingeschränkte positive Freiheit
Ein Defizit der öffentlichen Debatten über den Fall Albanese und andere Fälle besteht in der fehlenden Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit. Unter negativer Freiheit versteht man kurz gesagt das Nichtvorhandensein von Behinderungen, unter positiver Freiheit das Vorhandensein notwendiger Ressourcen(2). Beispielsweise besteht die negative Reisefreiheit darin, nicht gehindert zu werden, an beliebige Orte zu reisen. Die positive Reisefreiheit besteht darin, ein Transportmittel zu haben, um eine Reise durchzuführen.
Freiheitsrechte sichern i.d.R. nur die negative Freiheit, die positive, wenn überhaupt, nur indirekt. Aus der Reisefreiheit kann man z.B. keinen Anspruch an den Staat oder irgendeine andere höhere Gewalt ableiten, auf Kosten dieser Instanz Bahntickets zu erhalten. Genausowenig vermittelt das Grundrecht Wissenschaftsfreiheit einen Anspruch auf Ressourcen, die man für eine intendierte Forschung oder Lehre benötigt. Positive Freiheitsrechte sind von ihrer Struktur her Leistungsansprüche an einen „Protektor“ (Universität, Bundesland, Staat o.ä.), der die gewünschten Ressourcen bereitstellen soll. Sie stehen daher immer in Konkurrenz zu anderen Ansprüchen auf diese Ressourcen. Es entsteht automatisch das Problem, alle Anspruchsteller gleich zu behandeln und die Ressourcen fair zu verteilen. Bei negativen Freiheitsrechten treten vergleichbare konkurrierende Rechte anderer Subjekte nicht auf. Im speziellen Fall der Lehrfreiheit bedeutet dies, daß kein Anspruch auf Leser oder Zuhörer besteht, ebenfalls nicht auf „Bandbreite“ in einem Medium, über das man zwecks Mitteilung einer privaten Erkenntnis viele Empfänger erreichen möchte, z.B. einen Sendeplatz im Fernsehen, Platz auf einer Seite einer Tageszeitung oder einen großen Vortragssaal an einer Universität. Universitäten haben außerdem nur ihren Mitgliedern gegenüber die Verpflichtung, deren wissenschaftliche Arbeit im Rahmen der verfügbaren Mittel zu unterstützen. Nichtmitglieder haben grundsätzlich selber keinen Anspruch auf Ressourcen einer Universität. Man kann argumentieren, daß Mitglieder ihren Anspruch auf Ressourcen auf Nichtmitglieder übertragen können, wenn die Nichtmitglieder stellvertretend für die Mitglieder arbeiten oder andernfalls die Arbeit der Mitglieder erheblich behindert werden würde. Dies müßte aber im Einzelfall inhaltlich begründet werden, ein pauschales Recht zur Weitergabe von Ansprüchen an Dritte ist abzulehnen.
2.2 Funktionäre und Politiker sind keine epistemischen Autoritäten
Die Wissenschaftsfreiheit knüpft nicht an einer Person an, sondern an einer wissenschaftlichen Tätigkeit. D.h. jeder, der gemäß wissenschaftlichen methodischen Standards forscht oder lehrt, sollte dies frei, also ungehindert, tun können. Um diese Freiheit sicherzustellen, wird er (zumindest in Deutschland) auch rechtlich geschützt(3).
Ob eine Tätigkeit wissenschaftlich war, läßt sich nur nachträglich sicher feststellen. Bei geplanten Tätigkeiten, z.B. einem Forschungsprojekt oder einem Vortrag, kann man nur anstreben, die Merkmale der kommenden Tätigkeit möglichst gut zu prognostizieren. Typischerweise verlagert sich hier aus Aufwandsgründen der Beurteilungsgegenstand von der Tätigkeit auf die Person, die Tätigkeit ausführen wird. Personen, die bereits wissenschaftliche Meriten erworben haben, z.B. durch eine Promotion, sowie Mitglieder von Universitäten gelten als epistemische Autoritäten (s. Hauswald (2024), Zürn (2025)). Bei diesen Personen wird regelmäßig pauschal unterstellt, daß alle früheren und kommenden Tätigkeiten, die man Forschung und Lehre zuordnen kann, wissenschaftlich sind. Dies ist falsch(4). Auch bei diesen Personen sind nur Tätigkeiten geschützt, die wissenschaftlichen methodischen Standards entsprechen. Weil man hiervon i.d.R. ausgehen kann, verschiebt sich allenfalls die Beweislast auf denjenigen, der die Wissenschaftlichkeit einzelner Tätigkeiten, z.B. eines Vortrags, bezweifelt. Typische Beispiele für Tätigkeiten von Wissenschaftlern, die nicht unter den Schutz der Wissenschaftsfreiheit fallen, sind fachfremde Äußerungen(5). Die Verantwortung, private Meinungen und wissenschaftliche Erkenntnisse klar zu trennen, liegt bei den Wissenschaftlern. Wenn sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, verlieren sie ihre persönliche epistemische Autorität. Dieser Verlust bedeutet für angekündigte Tätigkeiten, daß die Beweislast für die Wissenschaftlichkeit dieser Tätigkeiten wieder auf den Wissenschaftler zurückfällt. Berufspolitiker, Parteifunktionäre, NGO-Aktivisten, Mitglieder von parteinahen Think Tanks usw. sind grundsätzlich keine epistemischen Autoritäten, und zwar selbst dann, wenn sie promoviert worden sind oder andere wissenschaftliche Meriten erworben haben. Man kann bei ihnen nicht pauschal unterstellen, daß ihre Äußerungen bzw. ihre Erkenntnisse wissenschaftlichen Standards entsprechen(6). Ein Beispiel ist Dr. Alice Weidel, die magna cum laude an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth promoviert wurde. Ihre These, Deutschland könne seinen Wohlstand durch Austritt aus der EU oder die Wiedereinführung der DM vermehren, ist offensichtlich keine wissenschaftliche Erkenntnis, also keine These, für die sie überzeugende, nach dem Stand der Wissenschaft fehlerfreie Evidenz präsentiert hat (was auch kaum möglich erscheint). In der Politik und in öffentlichen Debatten ist es normal, daß wissenschaftlich qualifizierte Personen die Lage einseitig aus dem Blickwinkel einer Partei darstellen und die Interessen dieser Partei vertreten. Entsprechende Thesen – insb. „Erkenntnisse“, daß die eigene Seite in einer politischen Auseinandersetzung Recht hat – können im Regelfall nicht als wissenschaftliche Erkenntnisse angesehen werden. Oft wird gar keine oder stark fehlerhafte Evidenz präsentiert. Die Argumente enthalten oft mehr oder weniger willkürliche Werturteile oder spekulative, nicht beweisbare Prognosen über soziale Entwicklungen. Sofern man hier überhaupt von Forschung oder Lehre, also der Gewinnung und Äußerung von Erkenntnissen, reden will, sind diese i.d.R. nicht ergebnisoffen, sondern einer politischen Agenda untergeordnet, also der Gewinnung und Verbreitung von Argumenten, die politische Ziele unterstützen(7). Daher wird auch bei weniger krassen Fällen als bei Dr. Alice Weidel, z.B. Dr. Markus Söder, Dr. Alexander Gauland, Dr. Robert Habeck und Dutzenden anderen promovierten Polit-Größen, niemand ernsthaft auf die Idee kommen, ihnen die epistemische Autorität von Wissenschaftlern und den Schutzanspruch der Wissenschaftsfreiheit zuzusprechen. Auch bei diesem Personenkreis können – wie grundsätzlich bei jeder Person – im Einzelfall Erkenntnisse und deren Verkündung, z.B. in einem öffentlichen Vortrag, wissenschaftlich fundiert sein und damit unter den Schutz der Wissenschaftsfreiheit fallen. Die Beweislast liegt hier aber beim Vortragenden.
2.3 Öffentliche Vorträge an Universitäten
Die öffentliche Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist zentraler Bestandteil der Lehrfreiheit. Man muß hier zwei Öffentlichkeiten unterscheiden: die Fachöffentlichkeit und die allgemeine Öffentlichkeit („Laien“):
- Vorträge, die an die Fachöffentlichkeit gerichtet sind(8), sind Teil der wissenschaftlichen Arbeit sowohl der Redner wie der Zuhörer. Dies ist insb. dann der Fall, wenn durch Zwischenfragen oder Repliken Aussagen geklärt oder wissenschaftliche Qualitätssicherung betrieben wird. Werden diese Formen wissenschaftlicher Arbeit behindert, wird in die Wissenschaftsfreiheit sowohl der Redner als auch der Zuhörer eingegriffen.
- Bei öffentlichkeitswirksamen Vorträgen, die an ein breites Publikum, also primär an Laien gerichtet sind („third mission“), kann durch deren Absage schon definitorisch die Wissenschaftsfreiheit der Zuhörer nicht verletzt werden. Betroffen ist hier allenfalls die Lehrfreiheit der Redner.
- Die negative Freiheit wird bedroht, wenn der Eindruck vermittelt wird, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, deren Verbreitung in dem Vortrag geplant ist, würden mißbilligt und ihre Verbreitung solle behindert werden. Der Effekt ist vergleichbar mit einer öffentlichen Distanzierung. Dieser Effekt, dessen Ausmaß i.d.R. schwer zu quantifizieren ist, ist als indirekte Behinderung für sich alleine wenig wirksam, kann allerdings zusammen mit anderen Formen der Distanzierung eine relevante Behinderung sein. Betroffen sein können sowohl die Einladenden als auch die Eingeladenen. Nichtzurverfügungstellungen von Räumen für einen externen Vortragswilligen sind allerdings Alltag an Universitäten und interessieren die Presse normalerweise nicht. Der öffentliche Distanzierungseffekt ist allenfalls denkbar bei Prominenten und Medienstars. Diese Personen oder ihre Anhänger konstruieren durch ihre mediale Reichweite den Sachverhalt der öffentlichen Distanzierung i.w. selber. Dies würden sie kaum tun, wenn sie die Distanzierung tatsächlich für schädlich hielten.
- Die positive Freiheit kann man dann als eingeschränkt ansehen, wenn man den Vortragsraum als ein wesentliches oder sogar unverzichtbares Mittel bei der wissenschaftlichen Arbeit der Einladenden einstuft. Bei den öffentlich debattierten Vortragsabsagen handelte es sich offenbar durchweg um größere Räume, die nur bei einer großen Zahl von erwarteten Zuhörern notwendig sind(9). Die einschlägige Fachöffentlichkeit an einer Universität, mit der ein wissenschaftlicher Dialog möglich ist, dürfte hingegen allenfalls die Größenordnung eines größeren Lehrstuhls haben, also eine niedrige 2-stellige Zahl von Zuhörern umfassen. Für solche kleineren Zuhörerzahlen verfügen die Lehreinheiten aber i.d.R. über eigene Räume, die im laufenden Betrieb für interne Besprechungen oder die Lehre benutzt werden. Die Hypothese, der wissenschaftliche Dialog mit einem externen Redner sei nur in einem großen Hörsaal möglich, ist unglaubwürdig. Vorträge, die sich an die allgemeine Öffentlichkeit richten, können in einer Zeit, in der massenhaft Vorlesungen, Promotionsprüfungen und andere wissenschaftliche Veranstaltungen on-line stattfinden, i.d.R. leicht auf eine virtuelle Durchführung ausweichen. Die Nichtzurverfügungstellung eines Vortragsraums stellt also keine ernsthafte Behinderung der wissenschaftlichen Arbeit dar. Völlig unglaubwürdig ist die These von einer Behinderung der öffentlichen Verbreitung eigener Erkenntnisse bei Politikern und Mediengrößen wie Albanese, deren mediale Macht gerade durch ihre on-line Auftritte entsteht und die durch ihre mediale Reichweite ein extrem großes Publikum erreichen. Durch noch einen weiteren (Präsenz-) Vortrag an einer Universität kann die mediale Reichweite dieser Personen nicht mehr in relevantem Umfang gesteigert werden. Als Zwischenfazit können wir hier festhalten: Eine Universität kann externen Rednern öffentlichkeitswirksame Auftritte in ihren Räumen ermöglichen, wenn dies als Teil der Arbeit der einladenden Mitglieder der Universität angesehen wird – die externen Redner haben selber keinen Anspruch -, muß dies aber nicht tun. Sofern sie es überhaupt macht, müssen alle Interessenten gleich behandelt werden. Wenn also Albanese ein Saal für einen öffentlichkeitswirksamen Vortrag zur Verfügung gestellt wird, müßte das auch bei Dr. Alice Weidel so gehandhabt werden (auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß sie jemand einlädt).
3. Die epistemische Autorität von Albanese
Wie oben erwähnt können auch bei Politikern im Einzelfall Erkenntnisse wissenschaftlich fundiert sein und damit deren öffentliche Verkündung unter den Schutz der negativen Wissenschaftsfreiheit fallen. Im Fall von Albanese kann man die Einladungen sogar als Versuche ansehen, Albanese generell als epistemische Autorität zu positionieren. In diesem Abschnitt untersuchen wir diese Positionierung.
3.1 Vorwurf der Volksverhetzung
Die Äußerungen von Albanese werden offensichtlich extrem kontrovers aufgenommen. Die Befürworter ihres Wirkens und der Einladungen an sie führen regelmäßig an, sie würde die unterberichtete Tatsache des „Völkermords“ an den Palästinensern publik machen. Ihre Gegner bezeichnen sie als antisemitische Hetzerin bzw. beschuldigen sie der Volksverhetzung.
Aufgrund ihrer tatsächlichen beruflichen Tätigkeiten kann man sie eindeutig als eine wichtige propalästinensische Aktivistin klassifizieren. Auf ihrem X-Kanal mit 350k Followern und in ihren Vorträgen wirft sie Israel immer wieder vor, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen. Sie verlinkt Quellen, die Israel Kriegsverbrechen vorwerfen, von den jahrelangen Angriffen der Hamas auf Israel findet man dagegen nichts. Sie stellt den Konflikt völlig einseitig dar, hinzu kommen vereinzelte extreme Meinungsäußerungen über Juden auf den sozialen Medien(10). Albanese leugnet außerdem regelmäßig etliche Greueltaten der Hamas, dazu anschließend mehr. Ihr Verhalten wird vielfach als Volksverhetzung eingeschätzt, also als Straftatbestand (§ 130 StGB). Sofern ein hinreichendes Risiko besteht, daß ein geplanter Vortrag an einer Universität justiziable Inhalte enthalten wird – insb. wenn bei einem naheliegenden Verdacht keine Präventivmaßnahmen eingeplant sind – sollte die Universität den Vortrag untersagen(11). Dies gilt allerdings für jede kriminelle Handlung im Verantwortungsbereich einer Universität. Gegen solche Handlungen muß eine Universität grundsätzlich einschreiten. Sofern dies der Fall ist (und die Universität ihre Ermessensspielräume nicht überdehnt), stellt sich die Frage nicht mehr, ob irgendjemandes Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt wird, denn Wissenschaftsfreiheit ist kein Freibrief für kriminelle Handlungen. Wie alle Prognosen ist auch die Prognose, daß Albanese beim nächsten Vortrag wieder antisemitische Haß-Botschaften verbreitet, unsicher. Ferner hängt die Möglichkeit, Haß und Hetze zu verbreiten, von den äußeren Umständen eines Vortrags ab, ist also individuell zu beurteilen. I.f. betrachten wir die strafrechtlichen Aspekte nicht weiter, sondern konzentrieren uns auf die inhaltliche Bewertung der Äußerungen von Albanese und ähnlicher Akteure, bei denen man strafrechtlich relevante Vorkommnisse nicht plausibel prognostizieren kann.
3.2 Akademische Qualifikationen
Albanese wird regelmäßig als internationale Expertin und ausgewiesene Wissenschaftlerin im Thema Völkerrecht positioniert, womit die epistemische Autorität von Wissenschaftlern für sie reklamiert wird.
Albanese ist nicht promoviert(12), besitzt also keinen formellen Nachweis der Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit. In ihren Selbstdarstellungen wird regelmäßig auf ihren Status als „Affiliate Scholar at the Institute for the Study of International Migration at Georgetown University“ hingewiesen. Damit soll offenbar suggeriert werden, sie sei dort permanent wissenschaftlich tätig, und ihr auf diesem Weg epistemische Autorität zugeschrieben werden. Tatsächlich wird sie dort auf der Liste der Other Affiliated Scholars geführt. Andere Erwähnungen von ihr sind im Webauftritt der U. Georgetown nicht zu finden. Es bleibt völlig unklar, ob sie dort noch in relevantem Umfang wissenschaftlich tätig ist. Wegen ihrer umfangreichen anderen Aktivitäten ist dies eher unwahrscheinlich. In jedem Fall ist der Status eines Other Affiliated Scholars kein Ersatz für eine Promotion oder gar Habilitation. Relevante akademische Qualifikationen von Albanese sind ein Bachelor in Rechtswissenschaft der Universität Pisa und ein Master (LLM) der School of Oriental and African Studies der University of London. Darüber hinaus bezeichnet sich Albanese regelmäßig als „international lawyer“, behauptet also, Rechtsanwalt zu sein. In vielen Rechtsordnungen, u.a. in Italien und den USA, ist dies irreführend oder ggf. sogar rechtswidrig, da dies ausdrückt, als praktizierender Anwalt zugelassen zu sein. Hierfür ist eine separate Prüfung erforderlich. In einem Interview in der Vanity Fair stellte Albanese klar, daß sie nie die Absicht hatte, als Anwältin zu arbeiten und dementsprechend auch keine entsprechende Prüfung abgelegt hat. Albanese ist ferner Autorin bzw. Co-Autorin mehrerer Monographien und anderer Papiere über die Situation von Flüchtlingen im nahen Osten. Daß diese Publikationen im einzelnen wissenschaftliche Beiträge enthalten, ist durchaus möglich, von außen aber schwer zu beurteilen und, wie sich i.f. zeigen wird, für die Frage irrelevant, ob ihr die epistemische Autorität von Wissenschaftlern zugesprochen werden kann.
3.3 Leugnung offensichtlicher Tatsachen
Albanese leugnet regelmäßig etliche Greueltaten der Hamas, z.B. die massenhaften und systematischen Vergewaltigungen jüdischer Frauen, s. z.B. hier und hier. Sie behauptet, die massenhaften Vergewaltigungen jüdischer Frauen seien „fabriziert“ bzw. es gebe „keine Evidenz“ für diese Behauptungen(13). Tatsächlich ist die Evidenz erdrückend, es gibt Berichte von vergewaltigten Frauen und Zeugen des Überfalls, forensische Untersuchungen, Bekennervideos etc. Übersichten über die zahlreichen Quellen finden sich hier, hier und in einem umfangreichen Report.
Über diese Verbrechen hat auch die internationale Presse ausführlich berichtet, können also bei jedem, der sich auch nur entfernt mit der Thematik beschäftigt, als bekannt unterstellt werden. Diese Berichte nimmt Albanese ganz einfach nicht zur Kenntnis (sogar wenn es UN-Berichte sind), oder sie behauptet, sie seien zurückgezogen worden oder unglaubwürdig. Sie verstößt damit in gravierendstem Ausmaß gegen wissenschaftliche Verhaltensnormen, wonach auch Daten und Informationen, die den eigenen Hypothesen widersprechen, ernst genommen werden müssen. Sie disqualifiziert sich damit als Wissenschaftler und kann schon aufgrund ihres tatsächlichen Handelns den privilegierten epistemischen Status von Wissenschaftlern nicht beanspruchen. Analog gilt dies für viele Aussagen von anderen Politikern mit einem wissenschaftlichen Hintergrund. Allerdings versuchen diese Politiker nicht, sich als Wissenschaftler zu positionieren. Anders bei Albanese: Ihre Eigendarstellungen und die Einladungen Universitätsmitgliedern versuchen, Albanese als epistemische Autorität darzustellen. Dies schädigt das Ansehen von Universitäten in besonderem Maße, denn die gravierenden Verstöße gegen wissenschaftliche Standards sind auch für Laien und die breitere politische Öffentlichkeit unübersehbar.
4. Wissenschaftsfreiheit der Eingeladenen
Wie schon oben erwähnt kann bei Vortragsabsagen sowohl die Wissenschaftsfreiheit der Eingeladenen als auch der Einladenden betroffen sein. Wir erörtern zunächst die Eingeladenen. Wir unterstellen i.f., daß diese nicht Mitglied der Universität der Einladenden ist.
Auf Basis der oben erläuterten Grundlagen sowie der Würdigung des Schaffens von Albanese und vergleichbarer Personen, Beispiele s.o., ist die Nichteinladung bzw. Nichtstellung eines Vortragssaals eindeutig keine Verletzung der von deren Wissenschaftsfreiheit:- Die negative Wissenschaftsfreiheit wird durch die Nichteinladung nicht verletzt, weil von einer relevanten wissenschaftlichen Reputation nicht ausgegangen werden kann, eine solche also auch nicht beschädigt werden kann. Daß sich eine Universität durch die Nichteinladung von den möglichen oder sogar zu erwartenden Aussagen von Albanese distanziert, ist legitim, da es sich z.T. um die Leugnung von Fakten oder wissenschaftlich unhaltbare Thesen handelt.
- Die positive Wissenschaftsfreiheit wird durch die Nichteinladung nicht verletzt, weil Nichtmitglieder grundsätzlich keinen Anspruch auf Ressourcen einer Universität haben, auch nicht auf Vortragsräume und Werbung für einen gewünschten Vortrag(14) (15).
5. Wissenschaftsfreiheit der Einladenden
Bei einer Vortragsabsage ist i.d.R. vor allem die Wissenschaftsfreiheit des oder der Einladenden betroffen. Wissenschaftler haben das Recht, ihren Forschungsprozeß frei zu gestalten. Dazu gehört auch, beliebige Personen, also auch Politiker und Personen ohne wissenschaftliche Qualifikation, zu sich einzuladen, um deren Input in Forschung und/oder Lehre als Rohmaterial zu verwerten oder sich mit diesen im Fall von eingeladenen Wissenschaftlern wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Eine Behinderung des wissenschaftlichen Austauschs mit Albanese lag aber, soweit die Fälle bekannt sind, offensichtlich nicht vor:
- Albanese hätte die Einladenden auch in deren eigenen Räumlichkeiten besuchen und mit ihnen diskutieren können. Ein massentauglicher Hörsaal mit mehreren 100 Plätzen ist dazu nicht erforderlich.
- Im speziellen Fall der Ausladung an der LMU war eine „Decolonial Practices Group“ Einlader. Welche konkreten Personen die Einladung aktiv betrieben haben, ist der Berichterstattung nicht zu entnehmen. Man kann jedenfalls davon ausgehen, daß zumindest ein Teil der Mitglieder dieser Gruppe Albanese einladen wollte.
Die „Decolonial Practices Group“ ist Teil des Rachel Carson Center for Environment and Society. Die Selbstdarstellung der „Decolonial Practices Group“ beschreibt die Agenda der Gruppe wie folgt:
Inhaltlich ist dies eine typische Aufgabenbeschreibung einer aktivistischen NGO(16). Von Forschung ist keine Rede. Ebenso bleibt unklar, ob diese Gruppe Juristen, genauer gesagt Spezialisten im Völkerrecht, enthält, die sich wissenschaftlich mit den Thesen von Albanese auseinandersetzen könnten. Zumindest im Fall der LMU ist stark zu bezweifeln, daß die Einladung von Albanese wissenschaftlichen Zwecken diente.Their focus extends beyond the theoretical realms to actively engage in decolonization efforts through praxis-oriented approaches. They are united by their commitment against all forms of oppression and strive to be more than just a discussion forum; the group’s goal is to actively organize, motivate, and engage in meaningful actions. They facilitate and participate in various initiatives that promote the process of decolonization. The Decolonial Practices Group is a space where theory meets action, driving tangible change, and fostering a deeper understanding of decolonial practices.
Zu den Aufgaben ein Wissenschaftlern gehört als „third mission“ auch die Unterrichtung der breiten Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. Wie schon oben dargestellt hat die Universität aber einen Ermessensspielraum, in welchem Umfang sie generell solche Aktivitäten unterstützt, speziell in dem Fall, daß nicht Mitglieder der Universität vortragen, sondern eingeladene Externe. Sie muß nur die Kriterien, welche Vorträge unterstützt werden, wegen des Diskriminierungsverbots konsistent anwenden. Eine grundsätzliche Ablehnung wie im Fall der LMU ist legitim(17).
Sofern Wissenschaftler aus der Wissenschaftsfreiheit ein Recht ableiten wollen, einen öffentlichkeitswirksamen Vortrag durchzuführen, haben sie m.E. eine Bringschuld, glaubhaft darzustellen, daß ein klarer Bezug zu ihrer eigenen Forschung oder Lehre vorliegt. Ihre eigenen Erkenntnisse sollten sie eigentlich am besten selber vortragen. Es ist durchaus denkbar, daß ein externer Redner etwas wichtiges Ergänzendes hierzu vorträgt oder stellvertretend für die einladenden Wissenschaftler Inhalte vorträgt und durch seine Prominenz den Erkenntnissen der einladenden Wissenschaftler zu mehr Reichweite verhilft. Dies gilt aber wiederum nur für wissenschaftliche Erkenntnisse. Bei den Vorträgen von Personen wie Albanese, Weidel und anderen Politikern ist dies nicht zu erwarten.
6. Anmerkungen
7. Quellen
- Statement Senatorin Czyborra zur geplanten FU-Veranstaltung mit Francesca Albanese. Pressemitteilung vom 11.02.2025, Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege, Berlin, 11.02.2025.
- Christine Binzel, Michael Barenboim, Hanna Kienzler: Protestschreiben von Prof. Christine Binzel (FAU Erlangen-Nürnberg), Prof. Michael Barenboim (Barenboim-Said Akademie) und Prof. Hanna Kienzler (Kings College London) an die Leitung der LMU. 03.02.2025.
- Francesca Albanese, Silvia Bombino (Interview): Francesca Albanese: «Sto per fare i nomi di 48 grandi aziende del mondo che finanziano il genocidio. Mi gettano fango addosso, ma non ho paura»a. Vanity Fair, 27.05.2025.
- Dutch minister won’t greet UN’s Gaza rapporteur: Telegraaf. DutchNews, 11.02.2025.
- Ruth Halperin-Kaddari, Nava Ben-Or, Sharon Zagagi-Pinhas: A Quest for Justice. October 7 and Beyond. The Dinah Project, 06.2025.
- Rico Hauswald: Epistemische Autoritäten. Individuelle und plurale. J.B. Metzler, ISBN 978-3-662-68750-5, 14.03.2024.
- Bernd Kastner: Münchner Uni verhindert Vortrag von UN-Sonderberichterstatterin. Süddeutsche, 05.02.2025.
- Udo Kelter: Wissenschaftsfreiheit. Eine Einführung. Netzwerk Wissenschaftsfreiheit e.V., 30.06.2025.
- Stephan Klenner, Reinhard Müller: 77 Völkerrechtler: Haftbefehl gegen Netanjahu beachten. FAZ Einspruch, 20.03.2025.
- Sandra Kostner: Wenn Wissenschafter eine Agenda verfolgen: wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis ersetzen. NZZ, 13.01.2020.
- Nils Kottmann: Israelfeindliche Demonstranten wollen Vortrag von Volker Beck verhindern. Jüdische Allgemeine, 13.09.2024.
- Kristin Platt: „Genozid passt hier wirklich gar nicht“. Deutschlandfunk Kultur, 12.01.2024.
- Jeannes Plaumann: Uni-Chef wegen Israel-Feindin unter Druck. Bild, 11.02.2025.
- Lautstarke Studierende vereiteln Vortrag von CDU-Politikerin. Spiegel, 20.06.2024.
- Till-Reimer Stoldt: Political Correctness bringt Debatten an Unis zum Schweigen. Welt, 21.09.2019.
- Rape Denier Francesca Albanese. unwatch.org, 18.07.2025.
- Michael Zürn, Jana Fritsch (Interview): „Einfach zu sagen, ‚wir sind jetzt wieder neutral`, funktioniert nicht.“. wissenschaftskommunikation.de, 27.01.2025.