Wissenschaft, Politik und Medien: Partnerschaft oder Teufelspakt?

  • Beitrags-Autor:

Prof. Dr. Thomas Naumann, Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY, Zeuthen,
und ATLAS-Experiment, Europäisches Zentrum für Kernforschung CERN, Genf

Die Wissenschaft sucht und braucht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien. Sie benötigt diese Aufmerksamkeit, denn sie muss die Mittel für ihre oft teuren Projekte bei der Politik einwerben und sie anschließend gegenüber der Öffentlichkeit, den Steuerzahlern und der Politik rechtfertigen. Umgekehrt sind die Medien angewiesen auf die Informationen aus der Welt der Wissenschaft. Die Politik wiederum braucht sowohl den Rat und die Expertise der Wissenschaft als auch die Unterstützung der Medien, um ihre Entscheidungen zu begründen und zu legitimieren.

Wissenschaft, Politik und Medien bilden also in unserer Gesellschaft ein Dreieck der Kommunikation und der Kooperation. Aber was sind ihre spezifischen Rollen in dieser Dreierbeziehung? Und was sind die Besonderheiten der drei Seiten dieses Verhältnisses, die auch Abhängigkeitsverhältnisse sind? Welche Gefahren lauern in diesen wechselseitigen Abhängigkeiten, und was sind ihre Grenzen? Beginnen wir mit dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Medien.

1. Wissenschaft und Medien

Große Forschungsprojekte wie der 27 km lange Large Hadron Collider LHC am CERN in Genf, das James Webb Weltraum-Teleskop der NASA, der Fusionsreaktor ITER in Frankreich, die internationale Raumstation ISS, die großen Teleskope von ESO und ESA1 oder der am CERN geplante 90 km lange Beschleuniger FCC benötigen von der ersten Idee bis zur Erfüllung ihrer Mission Jahrzehnte und kosten viele Milliarden Dollar. Deshalb benötigen sie die langfristige Unterstützung der Politik meist vieler Staaten. Um diese Unterstützung zu erhalten und zu bewahren, muss die Wissenschaft die Ziele und die Relevanz ihrer Forschung gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik immer wieder verständlich erklären.

Dabei genügt es nicht, die rein fachliche, innerwissenschaftliche Bedeutung eines Projekts zu begründen und zu erläutern. Es gab und gibt immer völlig berechtigte Vorbehalte gegen Forschung und insbesondere gegen ihre Finanzierung. Laien, Steuerzahler und der vielzitierte Mann von der Straße fragen zu Recht, warum wir Milliarden ausgeben müssen, um die letzten Geheimnisse des Mikrokosmos oder des Universums zu verstehen. Das ist nicht neu. Schon der Entdecker des Elektromagnetismus, der britische Physiker Michael Faraday, wurde um 1850 vom britischen Finanzminister Gladstone nach dem Nutzen seiner Entdeckung gefragt. Er soll geantwortet haben2: “Sir, I do not know what it is good for. But of one thing I am quite certain: Some day you may tax it.” Bald darauf ersetzte die Glühbirne die Petroleumlampe, wurden in Deutschland AEG und Siemens gegründet, und die Elektrizität trat ihren Siegeszug an.

Trotzdem gibt es gerade in Deutschland eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber allem Neuen, moderner Technik und der Forschung. Das zeigt sich in einer weit verbreiteten Angst vor dem „Atom“ in Form von Kernenergie und Radioaktivität, aber auch Handystrahlung oder der Genetik. Wie die Debatte um den Reaktorunfall in Fukushima und die anschließende übereilte Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke zeigt, sind für viele Menschen all diese Dinge des Teufels. Dies wird weltweit oft als „the German Angst“ verspottet. Auch die Corona-Debatte war von – durchaus verständlichen – Ängsten geprägt. Auf diese oft berechtigten Vorbehalte und Ängste muss die Wissenschaft reagieren und geduldig und mit Hilfe der Medien sachlich aufklären.

Umgekehrt haben die Medien großes Interesse an den neuesten Resultaten der Wissenschaft und sind in ihrer Berichterstattung auf sie angewiesen. Dieses Interesse der Medien ist für die Forschung gut und wichtig, auch weil die Geldgeber ihre häufig extrem teuren Projekte ohne dieses große öffentliche Interesse kaum finanzieren würden. Also tut die Wissenschaft alles, um dieses Interesse zu erhalten und zu schüren. Das allerdings verführt sie zu einer unkritischen und zuweilen voreiligen Kommunikation ihrer Resultate.

Um ihre Funktion als vierte Gewalt in unserer Demokratie zu erfüllen, müssen die Medien kritisch und unabhängig von Wissenschaft und Politik bleiben. Nun können sich jedoch besonders die unter wirtschaftlichem Druck stehenden Print-Medien kaum noch qualifizierten Wissen­schafts­journalismus leisten. Umgekehrt bauen die großen staatlich finanzierten deutschen Forschungs­organisationen wie die Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft sowie die Universitäten, aber auch ihre Dach­organisationen wie „Wissenschaft im Dialog“ immer größere Kommunikations­abteilungen auf. Dasselbe gilt für die großen internationalen Forschungsorganisationen CERN, ESA, ESO, ITER, NASA etc. Diese verdrängen zunehmend den immer schwächer werdenden unab­hängigen Wissenschafts­journalismus und ersetzen ihn durch Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache bis hin zu peinlichem Eigenlob ihrer „weltbesten“ Forschung, Selbst­vermarktung und Lobbyismus um Forschungsgelder.

Auch die Kommunikationsabteilungen der wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften wie der Leopoldina, der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der Gesellschaft Deutscher Chemiker etc. müssen sich hier positionieren: Pflegen sie nur ihr Image und achten strikt auf politische Neutralität – oder positionieren sie sich auch kontrovers zu wichtigen Fragen ihres Fachgebiets, die die ganze Gesellschaft betreffen. Wissenschaft wird also der Öffentlichkeit durch Akteure mit unterschiedlichem Abstand zum Gegenstand vermittelt: von kritischem Wissenschaftsjournalismus über Wissenschafts­kommunikation, die auch von Wissenschaftlern geleistet werden kann und soll, bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit der Forschungsinstitutionen.

Ein Beispiel aus der Physik ist die Kontroverse um die Kernkraft. Beschränkt sich eine Physikalische Gesellschaft ausschließlich auf Sachinformation wie z.B. die Klassifikation radioaktiven Mülls oder die Risiken des Betriebs von Kernreaktoren? Oder wägt sie die Risiken der Kernkraft gegen ihre CO2-Bilanz und ihre Fähigkeit zu zuverlässiger Grundversorgung ab, gibt eine wissenschaftlich begründete Empfehlung und gestattet sich damit eine eigene Meinung? Oder fragt sie, warum Japan – ein von zwei Atombomben und dem Reaktorunfall in Fukushima zutiefst traumatisiertes, sicherheitsbewusstes Land in einer der schlimmsten Erdbebenregionen der Welt – unbeirrt Dutzende Kernreaktoren ersetzen oder länger als 60 Jahre betreiben will? Da eine Organisation wie die Physikalische Gesellschaft nur im Namen ihrer Mitglieder sprechen kann, müsste sie deren Meinung und Willen feststellen, was ein komplizierter demokratischer Prozess ist.

2. Wissenschaft und Politik

Hört auf die Wissenschaft! wird von der Politik zu Recht gefordert. Doch wie kann Wissen in politisches Handeln übersetzt werden? Schon Jesus antworte auf die Frage, ob es einem Juden erlaubt sei, dem Kaiser in Rom Steuern zu entrichten3: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Ähnlich wie in der christlichen Zwei-Reiche-Lehre haben Wissenschaft und Politik ganz unterschiedliche Aufgaben:

Wissenschaft sagt, was ist. Politik sagt, was sein soll.

Dieser Unterschied muss ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und ins Zentrum unserer Debattenkultur rücken. Beratungsgremien wie ein Ethikrat können Empfehlungen erarbeiten. Aber erst die Politik entwickelt auf der Basis von Wissen Anweisungen zum Handeln. Erst Parlamente oder Regierungen handeln die Kompromisse zwischen den vielfältigen und einander oft widersprechenden fachlichen, politischen, sozialen, ethischen, wirtschaftlichen und anderen Aspekten aus. Nur sie geben Weisungen und erlassen Gesetze.4,5

Diese Trennung der Zuständigkeiten entbindet die Wissenschaft aber nicht von jeglicher Verantwortung für die Folgen ihrer Forschung. Wie jedes Ding ist Erkenntnis jedoch zunächst wertfrei. Erst der Mensch übernimmt in seinem Handeln und der Anwendung des Wissens moralische Verantwortung6. So sind das Feuer und seine Zähmung zunächst wertfrei. Erst der Mensch entscheidet, ob er damit sein Essen kocht oder eine fremde Hütte anzündet.

Im Juli 2022 mischten sich 19 erstunter­zeichnende aktive Professorinnen und Professoren deutscher Universitäten in die Politik ein: Sie unterbreiteten dem Deutschen Bundestag eine Petition7 zur Aufhebung der Paragraphen zum Atomausstieg im Atomgesetz. Vor dem Hinter­grund der sich verschärfenden Energiekrise sowie der vom IPCC und der EU als CO2-arm und nachhaltig eingestuften Kernenergie forderten die Petenten, um deutsche Kern­kraft­werke weiter betreiben zu können den Atomausstieg aufzuheben und die sicherheits­technischen Betriebserlaubnisse zu prüfen.

Noch ein anderer Aspekt muss ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden. „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“, sagte Sokrates vor dem Volksgericht von Athen. Sokrates versuchte die Grenzen des Wissens zu finden, und er lobte den Zweifel8. Sein Bestehen auf dem Zweifel kostete ihn das Leben: Die Athener verurteilen ihn zum Tode. Jahrhunderte später fragte auch der römische Statthalter Pontius Pilatus, als er Jesus verhörte, voller Zweifel9: Was ist Wahrheit?

Die Wissenschaft muss immer ihre Grenzen kennen, sie stets sichtbar machen und genau benennen. Wissen beruht immer auf unvollkommenen Bildern, Modellen und Theorien von der Realität (Klima, Corona, …), unvollständigen Daten und ist durch systematische und statistische Messfehler und den Erkenntnisstand seiner Zeit begrenzt. Es ist daher immer ungenau, ungewiss und fehlerbehaftet. Der Zweifel und das Wissen um die Ungewissheit des Wissens sind deshalb wesentlicher Bestandteil der wissenschaftlichen Methode10.

Beispiele für den Umgang mit Ungewissheiten aus der physikalischen Grundlagen­forschung sind:

  • der schrittweise Nachweis des Higgs-Teilchens am CERN 2012 bis 2013, der zur Verleihung des Nobelpreises 2013 führte
  • die 2011 angeblich schneller als das Licht vom CERN in Genf in den Gran Sasso Tunnel bei Rom fliegenden Neutrinos11 oder
  • der angebliche Nachweis von Effekten von Gravitationswellen, Quantengravitation sowie der kosmischen Inflation nach dem Urknall in Wirbeln der kosmischen Hintergrund­strahlung in den USA 201412.

Diese Ungewissheiten sind jedoch der Politik und in den Medien nur schwer zu vermitteln.13 Die Öffentlichkeit verlangt von der Wissenschaft einfache Wahrheiten und Gewissheiten. Die gibt es aber nicht. Deshalb ist Folgendes nötig:

  1. Die Wissenschaft muss klar sagen, was sie mit welcher Zuverlässigkeit weiß.
  2. Die Wissenschaft muss der Politik und der Öffentlichkeit das Bewusstsein dieser Ungewissheit vermitteln und eine kritische Kultur des Zweifels pflegen.
  3. Die Wissenschaft muss strikt der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet bleiben.
    Sie darf sich weder dem Druck der
    Medien, der Öffentlichkeit noch der Politik beugen.
  4. Die Wissenschaft sollte der Öffentlichkeit aktiv komplexe Zusammenhänge erläutern.
    Sie hat hier eine Bringschuld und kann dabei an die positiven Traditionen der abend­ländischen Aufklärung anknüpfen. Das betrifft Themen wie Klima, Gesundheit, Energie­versorgung, künstliche Intelligenz usw.
  5. Die Politik darf ihrerseits die Wissenschaft nicht missbrauchen, um ihre notwendigen und oft unpopulären Entscheidungen und Kompromisse mit den Resultaten der Wissenschaft zu legitimieren14. Alle Beteiligten müssen den Bürgern und der Öffentlichkeit klar kommunizieren, dass die Umsetzung von Wissen in politisches Handeln ein eigenständiger und komplexer Prozess ist.15
  6. Wissenschaft und Politik brauchen die Medien, um ihre Belange in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Umgekehrt brauchen die Medien die Politik und die Wissenschaft, um deren Themen am Medienmarkt zu platzieren. Auch hier deutet sich ein Teufelspakt an.

Um ihre Rollen klar zu trennen, müssen Wissenschaftler, die sich in der Öffentlichkeit äußern, deutlich machen, in welcher Rolle sie dort auftreten: als Fachwissenschaftler, als Mitglieder eines von der Politik zu ihrer Beratung berufenen Gremiums oder als Individuen mit ihrer persönlichen Meinung. Die Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Caroline Wichmann, unterscheidet dabei sechs Stufen der Wissenschaftskommunikation16 von der Erlangung des Wissens über seine Interpretation, das Aufzeigen von daraus erwachsenden Handlungsoptionen bis hin zu Meinungsäußerungen im eigenen und angrenzende Fachgebieten.

Um die Kommunikation zwischen Politik, Wissenschaft und Medien zu verbessern, sollten sich alle drei Akteure ihrer Rollen und der Besonderheiten und Gefahren ihrer Wechselbeziehungen bewusstwerden und die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren17.

3. Politik und Medien

Die Politik braucht die Medien, um gewählt zu werden, ihre Maßnahmen zu erklären und um Akzeptanz zu werben. Für die Medien wiederum ist die Kommunikation von Politik das Hauptgeschäft.

Aus diesen wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Wissenschaft, Politik und Medien kann leicht ein Teufelspakt entstehen. Die Wissenschaft gerät in die Situation des Zauber­lehrlings: die Geister, die sie rief, wird sie nun nicht mehr los. Sie wird zugleich Täter wie Opfer. Stattdessen sollten Wissenschaft, Politik und Medien ein gegenseitiges Geben und Nehmen, eine gute Kooperation, sachliche Information sowie Aufklärung der Öffentlich­keit im besten Sinne anstreben. Wie vor 300 Jahren sollte die Wissenschaft mittelalterlichen Ängsten das Licht der Vernunft und der Aufklärung entgegenzustellen, die im Englischen den schönen Namen Enlightenment trägt.

4. Freiheit der Wissenschaft

Der Kampf um die Freiheit der Wissenschaft ist somit auch und zuerst ein Kampf um die Freiheit des Menschen und seines Denkens.18 Wie Recht und Demokratie muss diese in Renaissance und Aufklärung gewonnene Freiheit gegen die Anhänger von Cancel- und Identitäts-Kultur, politischer Correctness, Wokeness und Gendern stets verteidigt und neu errungen werden.19 Wie zu Zeiten der Aufklärung muss die Wissenschaft auch heute die Fackel der Vernunft20 hochalten und die objektive, wissenschaftliche Wahrheit durchsetzen gegen die Herrschaft von Ideologen.

Die Organisation „Wissenschaft im Dialog“ unterstützt Wissenschaft und Forschung auch bei kontroversen Themen in der Kommunikation mit der Gesellschaft und im Dialog mit der Öffentlichkeit. Sie schärft das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung und die Arbeitsweise der Forschung. Benedikt Fecher, Geschäftsführer von „Wissenschaft im Dialog“, sagte in einer gemeinsamen Pressemittelung mit dem Bundesverband Hochschul­kommunikation im Juli 202321: „Von Forschenden wird heute erwartet, dass sie sich aktiv am öffentlichen Diskurs beteiligen, und für viele Forschende ist öffentliche Kommunikation mittlerweile Teil ihrer Arbeit. Diese Offenheit macht sie jedoch angreifbar.“

Das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ könnte die Aspekte der Wissenschaftsfreiheit auch im Rahmen dieser Organisation vertreten und in Fortführung des Positionspapiers des Wissenschaftsrats zur Wissenschaftskommunikation4 einen Kodex zur Wissenschaftsfreiheit entwickeln, in dem sich die Wissenschaft verpflichtet,

  1. stets ihre Forschungsmethoden und die Voraussetzungen ihrer Erkenntnisse sowie
  2. deren Ungewissheiten und Grenzen klar zu benennen,
  3. ihre Unabhängigkeit von der Politik und den Medien zu wahren und
    sich von beiden nicht für deren Zwecke missbrauchen zu lassen,
  4. die Folgen von Entscheidungen zu benennen, die auf ihren Erkenntnissen beruhen,
    und damit ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrzunehmen sowie
  5. stets transparent die Rolle darzustellen, in der sie auftritt.

 

Fußnoten

1 wie das Extremely Large Telescope ELT oder die Laser Interferometer Space Antenna LISA zum Nachweis von Gravitationswellen

2 M. Polymenis, Faraday on the fiscal benefits of science. Nature 468, 634 (2010). https://doi.org/10.1038/468634d

3 Evangelium des Matthäus 22,21.

4 Siehe auch: Wissenschaftskommunikation, Positionspapier des Wissenschaftsrats, Drucksache 9367-21 vom Oktober 2021, www.wissenschaftsrat.de/download/2021/9367-21.html .

5 So muss die Politik auch psychologische Aspekte wie die in Deutschland besonders ausgeprägte Angst vor Kernkraft und Radioaktivität berücksichtigen oder bei der Frage nach Energiequellen abwägen zwischen den Gefahren durch Radioaktivität bei der Nutzung der Kernenergie und denen durch CO2 bei der Nutzung fossiler Brennstoffe. Auch sind alle ökonomischen und sozialen Folgen einer Bepreisung von und des Handels mit CO2 abzuwägen.

6 Ein Beispiel, wie kompliziert die Frage der Verantwortung der Wissenschaft sein kann, ist die Entdeckung der Kernspaltung 1938 in Berlin und die darauffolgende Entwicklung der Atombombe in den USA. Otto Hahn, Fritz Strassmann und Lise Meitner beschäftigten sich mit der Frage, ob man durch Beschuss schwerer Elemente mit Neutronen künstliche Elemente schwerer als Uran erzeugen kann. An dieser Frage arbeiteten gleichzeitig auch die Nobelpreisträger Enrico Fermi in Rom und Frederic Joliot-Curie in Paris. Keiner der Forscher vermutete, dass Neutronen statt Trans­urane zu bilden Atomkerne spalten, dabei gigantische Energien und eine nukleare Ketten­reaktion und eine furchtbare Waffe initiieren könnten.

Es ist eine Ironie der Geschichte und einer der seltenen Fälle, wo sich eine mit dem Nobelpreis ausge­zeichne­te Entdeckung als falsch erwies: Kurz nach Hahns Messungen In Berlin berichtete Fermi im Dezember 1938 in seinem Nobel­­vortrag in Stockholm, in Rom Transurane beobachtet zu haben. Nur wenige Tage später schrieb die kurz zuvor nach Schweden emigrierte jüdische Physikerin Lise Meitner an Hahn in Berlin, seine unverständlichen Berliner Beobachtungen seien nur durch die Spaltung von Atomkernen erklärbar. Fermi verzieh sich diesen Fehler Zeit seines Lebens nicht. Aber er baute 1942 in Chicago den ersten Atomreaktor.

Aus berechtigter Furcht davor, dass Otto Hahn, Werner Heisenberg und andere Deutsche die Atombombe bauen könnten, schrieben Albert Einstein und Leo Szilard 1939 ihren berühmten Brief an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Daraufhin entwickelten die USA unter der Leitung von Robert Oppenheimer im Rahmen des Manhattan-Projekts die Atombombe. In diesem Projekt arbeiteten viele aus Europa stammende jüdische Physiker wie R. Feynman, E. Teller, F. Bloch, H. Bethe, J. von Neumann, O. Frisch, R. Peierls, E. Segrè, J. Franck, I. Rabi, J. Rotblat, V. Weisskopf, P. Abelson und E. Wigner. Eins ihrer Motive war, Hitler bei der Entwicklung der Atombombe zuvorzukommen. Das war der widerspruchsvolle Weg von einer anfangs rein wissenschaftlichen Fragestellung und Entdeckung über eine aus moralisch akzeptablen Gründen entwickelte Waffe zu ihrem schrecklichen Missbrauch.

Der Abwurf der Atombomben über Japan löste bei vielen der genannten Beteiligten große Skrupel aus. Auch Lise Meitner war zutiefst betroffen. Aber auch die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes vom August 1945 bezeugen den Schock bei den im englischen Farm Hall internierten deutschen Kernforschern Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue, Carl-Friedrich von Weizsäcker und Walter Gerlach, dem „Bevollmächtigten des Reichsmarschalls für Kernphysik“, ab 1948 Rektor der Münchener Universität.

Die ursprüngliche Absicht, das Verhalten schwerer Elemente zu verstehen, kann man kaum als moralisch verwerflich bezeichnen. Es sei denn, man folgt der Moral der Bibel: Nachdem Adam dem Apfel vom Baum der Erkenntnis nicht widerstehen konnte, wurde der Mensch aus dem Paradies vertrieben. Unsere Neugier und die in diesem Gleichnis so wundervoll beschriebene Lust an der Erkenntnis sind jedoch das Wichtigste, was uns vom Tier unterscheidet. Sie sind aber zugleich der christliche Sündenfall, unsere Ur- und Erbsünde, Fluch und Segen, denn seit dieser Sünde der Erkenntnis haben wir unsere Einheit mit Gott und Natur verloren.

Kompliziert wird der Fall der Atombombe dadurch, dass selbst der konsequente Pazifist Einstein aus Furcht vor Hitlers Bombe die Entwicklung dieser Waffe unterstützte. Mit Kriegsende wurden dieses ursprünglich akzeptable Ziel und insbesondere die Anwendung der Waffe verwerflich. Dieses Dilemma ist schwer auflösbar und z.B. Thema von Bertolt Brechts und Heinar Kipphardts zeitgenössischen Stücken über Galilei und Oppenheimer sowie Christopher Nolans neuem Film über Oppenheimer.

7 Petition des Deutschen Bundestages Nr. 136760, Nukleare Ver- und Entsorgung, Stuttgarter Erklärung: Aufhebung der Atomausstiegs-Paragraphen (insbesondere § 7 Atomgesetz) vom 26.07.2022, https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2022/_07/_26/Petition_136760.html

8 In seinem Gedicht „Lob des Zweifels“ schrieb Bertolt Brecht:

O, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
Was hat er an Opfern gekostet! …
Aufatmend schrieb ihn ein Mensch eines Tages
in das Merkbuch des Wissens ein…
Und dann mag es geschehn, dass ein Argwohn entsteht.
Denn neue Erfahrung bringt den Satz in Verdacht.
Der Zweifel erhebt sich.

Und eines anderen Tags streicht ein Mensch
im Merkbuch des Wissens
Bedächtig den Satz durch.

9 Evangelium des Johannes 18,38.

10 Ein schönes Beispiel für die auch im 20. Jahrhundert verschlungenen Wege der Wahrheit liefert die Kosmologie. Bei der Schaffung seiner Gravitationstheorie kannte Einstein nur ein statisches, ewiges und unveränderliches Universum, das jedoch unter der Last seiner Schwerkraft zusammen­brechen musste. Um das zu verhindern, führte Einstein als Gegenkraft seine kosmologische Konstante ein. Kurz danach entdeckten der belgische Priester Georges Lemaître und Edwin Hubble die universelle Galaxienflucht. Darauf korrigierte Einstein seine „größte Eselei“ und setzte die kosmo­logische Konstante gleich Null.

Diese Vorstellung eines Urknalls kam ironischerweise der Kirche entgegen: 1951 begrüßte Papst Pius XII in der Päpstlichen Akademie den Urknall als eine Bestätigung des Schöpfungsglaubens. Einsteins statisches Universum hatte hingegen keinen Anfang und kein Ende. Es kannte weder Schöpfer noch Schöpfung und stand damit in der Tradition der antiken Naturphilosophie.

Überraschenderweise kehrte die kosmologische Konstante 1998 als Dunkle Energie in die Kosmologie zurück. In dieser Abfolge von Irrtümern und Wahrheiten hatten alle – Physiker, Atheisten und Kleriker – abwechselnd recht und unrecht.

11 Thomas Naumann, Science and the Media, ScienceOpen Research, Vol. 0(0):1-18. August 2015,
doi:10.14293/S2199-1006.1.SOR-SOCSCI.AO0K8X.v1 .

12 Im März 2014 luden vier Astrophysiker vom Experiment BICEP2 wegen einer „major discovery“ zu einer außer­ordentlichen Pressekonferenz an das Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics CfA in Cambridge in den USA. Die Astrophysiker behaupteten, sie hätten im BICEP-Experiment in Wirbeln der kosmischen Hintergrundstrahlung Gravitationswellen entdeckt, die von Quantenfluktuationen des extrem starken Gravitationsfelds zu Beginn der inflationären Ausdehnung unmittelbar nach dem Urknall stammen. Die Nachricht, dass Anzeichen von Quantengravitation, Gravitationswellen und der kosmischen Inflation, also des Urknalls, gefunden seien, eroberte in Windeseile die Schlagzeilen der internationalen Presse. Schließlich behaupteten die Physiker, mindestens zwanzig Größenordnungen auf der Zeitskala näher zum Urknall vorgedrungen zu sein – ein gigantischer und historisch einmaliger Schritt! Angesichts dessen hätten sie jedoch eine alte Regel der Forschung beachten müssen: Extraordinary claims require extraordinary evidence.

Anfang 2015 zeigte eine gemeinsame Analyse mit den Daten des PLANCK-Satelliten, dass der Effekt praktisch vollständig von interstellarem Staub erklärt werden kann. Die „Los Angeles Times“ resümierte: „Cosmic inflation: Dust finally settles on BICEP2 results“. Drastischer urteilte die „Frankfurter Allgemeine“ am 4. Februar 2015 über das unrühmliche Ende dieser mit so viel Anmaßung verkündeten „Entdeckung“: „Wie man den Dreck auch dreht und wendet, es bleibt Dreck“.

13 Cornelia Varwig , Kommunizieren oder verschweigen – Wie geht man mit wissenschaftlicher Unsicherheit um? in: J. Schnurr, A. Mäder (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft: Ein vertrauensvoller Dialog, Springer Open Access, 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59466-7_15

14 In einem Interview für den „Münchner Merkur“ äußerte die ehemalige Bundesfamilienministerin und Stellvertretende Vorsitzende der Denkfabrik R21 Kristina Schröder im August 2023: „Die Wissen­schaft kann Tatsachenaussagen treffen, aber uns keine Handlungsanweisungen geben. Das war der große Fehler der Politik, die für diese Entscheidungen zuständig wäre, sich hinter der Wissenschaft zu verstecken.“
www.merkur.de/politik/klimapolitik-ex-ministerin-kristina-schroeder-sorgt-sich-um-grundrechte-corona-news-interview-92485852.html
https://denkfabrik-r21.de/zwischen-covid-und-klima-kristina-schroeder-warnt-vor-bevormundung-der-buerger

15 Auch Richter setzen den Text des BGB in einem komplexen, von ethischen und politischen Kompromissen und Abwägungen geprägten Prozess in ihr Urteil um.

16 Caroline Wichmann, Expertise allein reicht nicht, Die ZEIT Nr. 38 vom 13. Juli 2023, S. 33.

17 Einen guten Beitrag zu dieser Problematik lieferte das Colloquium Fundamentale des KIT im Wintersemester 2021/22. Folgende sechs Vorträge kann man auf ZAKVideoclips verfolgen: https://youtube.com/playlist?list=PL0TmH52ybqIdem3EfomnWFs3E2TZ-1w6A

  • Politisierte Debatten um Umwelt, Technologie und Wissenschaft (Prof. Senja Post)
    Verhältnis zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik

  • Soll die Politik der Wissenschaft folgen? (Dr. Alexander Bogner)
    Einfluss der Wissenschaft auf die Politik

  • Auf was soll man sich denn sonst verlassen? (Prof. Klaus Kornwachs)
    Vereinbarkeit von Wissenschaft und Politik

  • Politikberatung in der Corona-Pandemie (Prof. Andreas Busch)
    Wie nutzt Politik die Expertise der Wissenschaft

  • Welchen Journalismus über Wissenschaft braucht die Demokratie?
    (Volker Stollorz, Geschäftsführer des Science Media Center Germany)

  • Vom Laien zum selbsternannten Experten (Dr. Svenja Schäfer)

18 siehe unter anderem: Elif Özmen, Wissenschaftsfreiheit: Normative Grundlagen und aktuelle Herausforderungen, in: Wissenschaftsfreiheit, APuZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung, 71. Jahrgang, 46/2021, 15. November 2021, Seite 4-9. ISSN 0479-611 X, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissenschaftsfreiheit-2021.

19 Die Anhänger von Cancel- und Identitäts-Kultur, politischer Correctness, Wokeness und Gendern agieren oft im Stil mittelalterlicher religiöser Sekten. Davon zeugen auch ihre Speise-, Sprach-, Sexual- und Denk­vorschriften. Wie ihr Name sagt, verkündet uns die Letzte Generation schließlich die Apokalypse.

20 siehe auch: Julian Nida-Rümelin, Cancel Culture – Ende der Aufklärung?, Piper, München 2023.

21 Bundesverband Hochschulkommunikation und Wissenschaft im Dialog starten den ersten bundesweiten Scicomm-Support, Anlaufstelle bei Angriffen und Konflikten in der Wissenschafts­kommunikation, Gemeinsame Pressemitteilung von Bundesverband Hochschulkommunikation und Wissenschaft im Dialog, 20. Juli 2023, https://idw-online.de/de/news818108