Warum ist Wissenschaftsfreiheit so schwer zu verstehen?

  • Beitrags-Autor:
Udo Kelter
03.03.2024

Warum ist Wissenschaftsfreiheit so schwer zu verstehen?

  1. Aktuelle Vorwürfe gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit
  2. Exkurs: Was ist Wissenschaftsfreiheit?
  3. Entstehung und Mission des NWF
  4. Vorwürfe und Verdächtigungen in [Rauch, 2024-02-06]
  5. Fazit
  6. Referenzen
  7. Anmerkungen

 

Aktuelle Vorwürfe gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit sieht sich im Gefolge der erstmaligen Verleihung des Preises für Wissenschaftsfreiheit massiven Angriffen auf X/Twitter und in einigen Medien ausgesetzt, u.a. „rechte Narrative“ zu bestärken, die Demokratie zu gefährden oder gleich rechtsradikal zu sein. Besonders hervorgetan hat sich dabei Prof. Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin. Die Argumentationen, mit denen sie ihre Vorwürfe begründet und die sich auch in vielen Posts auf X/Twitter finden, kann man kaum anders interpretieren als als Unkenntnis, was Wissenschaftsfreiheit bedeutet. Sie kritisiert das Netzwerk u.a. dafür,

  • versucht zu haben, das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit durchzusetzen (bei Personen, die ihr offenbar unsympathisch sind),
  • zu viele Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit aus dem linken/feministischen Lager und zu wenige aus anderen ideologischen Lagern zu thematisieren und
  • mit seinem Einsatz zur Durchsetzung von Art 5(3) GG (Kunst- und Wissenschaftsfreiheit) gegen Art 3 GG (also rechtliche Gleichstellung) zu agitieren.

Ich halte diverse Argumente und Behauptungen von Rauch und einigen Kommentatoren auf X/Twitter für sachlich falsch und teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz. Bevor ich diese Einschätzung begründe, müssen einige Grundbegriffe geklärt werden.

Exkurs: Was ist Wissenschaftsfreiheit?

In Deutschland ist die Wissenschaftsfreiheit durch Art. 5(3) Grundgesetz ein individuelles Grundrecht jedes Bürgers. Grundrechte sind in erster Linie einklagbare Abwehrrechte(1) von Bürgern gegenüber staatlicher Macht, d.h. der Staat darf das Grundrecht nicht willkürlich beschränken. Sekundär muß der Staat auch Angriffe durch nichtstaatliche Instanzen abwehren. Das Recht besteht darin, ungehindert wissenschaftlich forschen und die so gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse ungehindert verbreiten („lehren“) zu können. Forschungsfreiheit bedeutet, die untersuchten Fragen und die Untersuchungsmethoden frei wählen zu können. Lehrfreiheit bedeutet u.a. als negatives Freiheitsrecht, nichts lehren zu müssen, was man als falsch erachtet.

Im deutschen Grundgesetz sind Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit als unterschiedliche Grundrechte verankert. Diese Trennung basiert auf einem grundlegenden qualitativen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Meinungen. Individuelle Meinungen müssen nicht begründet werden, dürfen sachlich falsch sein und tragen im öffentlichen Debattenraum zur Bildung einer öffentlichen Meinung bei. Über „die öffentliche Meinung“ und darauf basierende demokratische Entscheidungen entscheiden Mehrheiten. Über die Korrektheit wissenschaftlicher Erkenntnisse entscheiden keine Mehrheiten, sondern die Qualität von deren Begründung. Diese Qualität wird in einem sozialen Teilsystem, das Gärditz als „Wissenschaftssystem“ bezeichnet, in wissenschaftlichen Debatten und durch wissenschaftstheoretische Standards sichergestellt. Die am besten sichtbaren Teile des Wissenschaftssystems sind staatliche Universitäten und Großforschungseinrichtungen.

Die personenbezogene Wissenschaftsfreiheit überträgt sich mit Hilfe von Grundgesetz, Art 19(3) auf Universitäten, die nur juristische Personen sind, also von sich aus keine Menschenrechte haben. Universitäten haben kollektiv die individuellen Grundrechte ihrer Wissenschaftler gegen Angriffe von außen zu schützen.

Zur Wissenschaftsfreiheit gehört die Freiheit der Wissenschaftler einer Hochschule, über die eigenen Selbstorganisation und kollektiven Strategien unabhängig von den Geldgebern oder äußeren Einflüssen zu entscheiden. Dieses Recht wird auch als „akademische Autonomie“ bezeichnet. Aus Sicht einzelner Wissenschaftler entstehen indes durch die inneruniversitären Machtstrukturen neue Akteure, z.B. Hochschulleitungen, Dekanate u.ä., die ihre Macht dazu gebrauchen können, die Wissenschaftsfreiheit einzelner Wissenschaftler einzuschränken. Jacobsen stellt detailliert dar, daß derartiger Machtmißbrauch von Inhabern von Machtpositionen nicht durch deren Wissenschaftsfreiheit gedeckt ist.

Entstehung und Mission des NWF

Entstanden ist das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit in einem Umfeld, in dem es etliche gut begründete Warnungen vor und Proteste gegen zunehmende Einschränkungen der Meinungsfreiheit gegeben hatte. Stichworte sind hier Moralisierung von Debatten, Identitätspolitik und Opferstatusgesellschaften.
Von diesen unerfreulichen allgemeinen Entwicklungen blieben die Hochschulen nicht verschont: Wenn bei einem Streitthema die Meinungsfreiheit angegriffen wird, dann typischerweise auch die Wissenschaftsfreiheit. Eine steigende Zahl von Wissenschaftlern sah ihre Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt. Das primäre Ziel des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit war, Betroffenen zu helfen, ihr Recht auf Wissenschaftsfreiheit durchzusetzen, und Entwicklungen hin zu mehr Wissenschaftsunfreiheit entgegenzuwirken.

Das Netzwerk fand rasch viele Unterstützer, die Mitgliederzahl verzehnfachte sich seit der Gründung. Gleichzeitig wurde das Netzwerk von Anfang massiv angefeindet – mit der Durchsetzung von Grundrechten macht man sich nicht überall beliebt.

Vorwürfe und Verdächtigungen in [Rauch, 2024-02-06]

In einem als „Standpunkt“ etikettierten Beitrag warnt Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin, eindringlich vor den Aktivitäten des Netzwerks und positioniert die TU Berlin klar gegen das Netzwerk, weil das Netzwerk „gefährliche Narrative“ verbreite. Auf die in diesem Text zu beobachtenden Denkfehler bzw. die anscheinende Unkenntnis grundlegender Begriffe gehe ich i.f. detailliert ein, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich in ähnlicher Form auch andernorts, namentlich in den sozialen Medien, wiederfinden.

Wissenschaftsfreiheit vs. Meinungsfreiheit

Als erste Evidenz für ihre These von der Gefährlichkeit des Netzwerks zitiert Frau Rauch eine Passage aus dessen Webseite. Diese Passage spricht sich dagegen aus, daß bestimmte Akteure festlegen, welche Fragestellungen, Themen und Argumente in der Wissenschaft behandelt werden.
Auf das Zitat folgt die „Frage, was die Mitglieder des Netzwerks unter Freiheit und freier Meinungsäußerung verstehen„.

Wörtlich genommen ist diese Frage leicht zu beantworten: Meinungsäußerungsfreiheit wurde schon oben beschrieben, sie beinhaltet das Recht, völligen Unfug ungestraft äußern zu können(2). Sie ist etwas wesentlich anderes als Wissenschaftsfreiheit, die hier das eigentliche Thema ist. Beide werden aber häufig verwechselt, eventuell auch hier.

Fragen wie die von Frau Rauch sind indes meist rhetorisch, der raunende Unterton macht klar, daß eigentlich etwas Negatives über die erwähnten Personen ausgesagt werden soll, ohne sich juristisch angreifbar zu machen, in diesem Fall, daß die Mitglieder des Netzwerks nicht wissen, was unter Freiheit und freier Meinungsäußerung zu verstehen ist. Diese falsche Einschätzung, sofern intendiert, fällt wiederum unter die Meinungsäußerungsfreiheit, denn in politischen Debatten sind auch stark verzerrende, unsubstantiierte Aussagen über Meinungsgegner zulässig.

Eine dritte, aus einer Gesamtsicht auf das Papier naheliegende Interpretation der rhetorischen Frage von Frau Rauch ist, daß sie damit den zitierten Standpunkt des Netzwerks kritisiert bzw. ihn ablehnt. Der zitierte Satz steht im Gründungsmanifest des Netzwerks, er drückt aus, daß man externe Einflußnahmen auf „Fragestellungen, Themen und Argumente“ der Wissenschaft ablehnt. Diese Formulierung ist nur eine von vielen Möglichkeiten, den Begriff Forschungsfreiheit zu definieren: als Abwesenheit von äußeren Einflüssen darauf, welche Themen Wissenschaftler mit welchen Methoden untersuchen.
Wenn Frau Rauch diesen Standpunkt kritisiert, ihn also ablehnt, lehnt sie im Endeffekt die Forschungsfreiheit ab, was unmittelbar grundgesetzwidrig ist.

Aberkennung von Grundrechten

Um ihre These von der Gefährlichkeit des Netzwerks zu belegen, lenkt Frau Rauch anschließend die Aufmerksamkeit auf zwei Fälle (Wagener, Flaig), in denen das Netzwerk eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit gesehen hat, sog. Fälle von „Cancel Culture“, und hiergegen z.B. in Form von Pressemitteilungen protestiert hat.

Daß eine grundrechtsgebundene Institution, vertreten durch ihre Präsidentin, es als gefährlich darstellt, Grundrechte durchzusetzen, ist außerordentlich bemerkenswert.

Als charakterliches Defizit rechnet Frau Rauch den genannten Personen offensichtlich an, unerwünschte Bücher geschrieben oder unerwünschte Meinungen geäußert zu haben. Das führt zur Frage, was Frau Rauch unter Freiheit und freier Meinungsäußerung versteht, warum genau sie die Unterstützung gerade dieser Personen kritisiert und ob ihre Kritik ausdrücken soll, daß diese Personen ihr Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit verwirkt haben.
Ein Entzug von Grundrechten ist zwar gemäß Art. 18 GG grundsätzlich möglich und derzeit in einigen Kreisen en vogue. Die Maßstäbe sind indes sehr streng, kein einziger der sehr wenigen bisherigen Anträge auf Grundrechtsverwirkung war erfolgreich. Das Netzwerk hat sich klar gegen solche Absichten positioniert.

Täter-Opfer-Umkehr

Anschließend wechselt Frau Rauch von der Opferseite auf die Täterseite und bemängelt, daß es in den Stellungnahmen insgesamt recht viel um Migrantinnen geht. Das ist richtig beobachtet, tatsächlich gibt es viele gewaltbereite Aktivisten, die nicht nur Migrationsforscher angreifen, sondern auch Journalisten, die Mißstände im Zusammenhang mit der Migration untersucht und darüber berichtet haben. Es gibt in diesem Themengebiet auffällig viele Angriffe auf Wissenschaftler, weitaus mehr als in anderen Themengebieten. Insofern spiegeln die „recht vielen“ Berichte des Netzwerks lediglich die realen Verhältnisse wieder.

Frau Rauch betreibt hier eine typische Täter-Opfer-Umkehr: Daß gehäuft über illegale Handlungen berichtet wird, setzt die Täter in ein schlechtes Licht, was diese wiederum zu Opfern macht.

Verteidigung von Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit, II

Als nächstes kritisiert Frau Rauch, daß sich „auffällig viele Stellungnahmen gegen Forschung oder Positionen zur Geschlechterdiversität richten“. Meine Suchmaschine findet „Diversität“ nur 3 Stellen auf der Webseite des Netzwerks, keine davon hat mit Geschlechterdiversität zu tun. Für die Behauptung von Frau Rauch finden sich keinerlei Belege, sie fällt natürlich trotzdem unter die Meinungsfreiheit.

Einen Satz später, und eventuell als Beleg für die vorige Behauptung gedacht, weist Frau Rauch zustimmend auf das Standpunktedokument der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof) hin und kritisiert die Kritik des Netzwerks an diesem Dokument. Die Kritik des Netzwerks benennt mehrere Beispiele, in denen die bukof allen Fächern Vorschriften machen will, wie und mit welcher ideologischen Haltung geforscht werden soll.
Diese versuchte Einflußnahme ist ein klassisches Beispiel für einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Strukturell ist dieser Angriff vergleichbar mit Angriffen mit der umgekehrten Zielrichtung durch die AfD, die das Netzwerk im übrigen an mehreren Stellen deutlich zurückgewiesen hat. Frau Rauch solidarisiert sich hier mit dem Angriff der bukof auf die Wissenschaftsfreiheit und bestärkt die Zweifel daran, daß sie den Sinn der Wissenschaftsfreiheit verstanden hat.

Das Narrativ vom Narrativ

Anschließend äußert sich Frau Rauch abfällig über private politische Standpunkte von Mitgliedern des Netzwerks, die vermutlich als Kontaktschuldargument gedacht sind, und bescheinigt sich selber, mit der vorstehenden Serie von rufschädigenden Andeutungen und Falschbeschuldigungen die „Aktivitäten des Netzwerks absichtlich möglichst neutral zusammengefasst“ zu haben. Es folgen einige Falschaussagen über „die (alle?) Mitglieder des Netzwerks“:

  • Die Mitglieder des Netzwerks beanspruchen für sich, unter dem Mantel der Wissenschaftsfreiheit zu agieren.
    Nein, das Netzwerk bzw. seine Mitglieder agieren nicht unter einem Mantel, sondern ganz offiziell mit dem Ziel der Durchsetzung der Wissenschaftsfreiheit. Man beansprucht auch die Wissenschaftsfreiheit nicht für die eigene Tätigkeit. Die Durchsetzung von Grundrechten gegen deren Gefährdungen ist letztlich eine staatsbürgerliche Aufgabe und eine politische Tätigkeit.
  • Kritik oder Abgrenzungen gegenüber ihren Stellungnahmen werden als Cancel Culture betitelt oder als ideologiegetrieben abgestempelt.
    Nein, mit Cancel Culture bezeichnet das Netzwerk wie üblich Angriffe auf Wissenschaftler und deren Wissenschaftsfreiheit, nicht die Kritik an den Stellungnahmen des Netzwerks.
  • Zwischenüberschrift: „Die Äußerungen des Netzwerks stärken das Narrativ der Neuen Rechten
    Darf man fragen, welches Narrativ? Das vom „Bevölkerungsaustausch“ oder der „Lügenpresse“? Den Ethnopluralismus? Wir erfahren über das unbekannte Narrativ nur, daß es sehr gefährlich ist und „wir uns diesem Narrativ in keinem Fall beugen dürfen„. Zweck dieser nebulösen, unsubstantiierten Aussage ist offensichtlich alleine die Rufschädigung des Netzwerks.

 

Art 5(3) GG vs. Art 3 GG

Anschließend steigern sich die Vorwürfe zu einer Art Finale in der Passage:

Denn Forschung und Lehre können nur frei sein, wenn Menschen, egal welcher Nationalität, Religion oder welchen Geschlechts, gleich und fair behandelt werden. Genau das wird durch das Netzwerk aber massiv infrage gestellt.

Daß „Menschen, egal welcher Nationalität, Religion oder welchen Geschlechts, gleich und fair behandelt werden“, ist zentrales Thema von Art 3 GG und wird als Gleichberechtigung oder rechtliche Gleichstellung bezeichnet. Genauso wie Art 5 GG ist es primär ein Abwehrrecht von Bürgern gegenüber staatlicher Macht, d.h. der Staat darf nicht selber in Gesetzen willkürlich dem Grundrecht zuwider handeln, z.B. durch Frauen-. Migranten- oder ähnliche Quoten.

Zusammengenommen behaupten die beiden Sätze, daß das Netzwerk sowohl Art 5(3) GG als auch Art 3 GG massiv infrage stellt. Der Bezug auf Art 3 GG wird einen Satz später betont, indem Frau Rauch ihre Angriffe auf das Netzwerk „als Zeichen für die Solidarität mit allen Menschen“ darstellt.
Die Behauptung, das Netzwerk würde irgendein Grundrecht, insb. Art 3 GG, massiv infragestellen, ist eine justiziable, faktenwidrige Tatsachenbehauptung über das Netzwerk als Ganzes und seine Mitglieder, also auch mich, worauf an anderer Stelle einzugehen sein wird.

Der Text liefert keine nachvollziehbare Begründung für die rufschädigende Behauptung, man kann allenfalls darüber spekulieren, wie jemand zu dieser absurden Meinung kommen kann. Die vorderen Teile dieses Textes legen die Vermutung nahe, daß ein Verstoß gegen Art 3 GG darin gesehen wird, daß das Netzwerk willkürlich nur bei bestimmten Personen, allerdings den falschen, versucht hat, deren Wissenschaftsfreiheit durchzusetzen. Diese Hypothese ist absurd, sie beruht auf mehreren offensichtlichen Denkfehlern bzw. unzutreffenden Annahmen:

  • daß das Netzwerk irgendeinen Einfluß darauf hat, in welchen Themengebieten Verletzungen von GG Art 5(3) real auftreten bzw. wahrscheinlich sind, und so die thematische Ungleichverteilung selber verursacht,
  • daß das Netzwerk eine Behörde oder Staatsanwaltschaft ist, die über beliebige Ressourcen verfügt und flächendeckend nach Verletzungen von Art 5(3) fahnden kann(3) (stattdessen reagiert das Netzwerk großenteils auf Unterstützungsanfragen, also auf Eigeninitiativen von Geschädigten),
  • daß die Menge der Wissenschaftler, die mit öffentlichen Stellungnahmen unterstützt wurden, identisch ist mit der Menge der Wissenschaftler, die beraten wurden bzw. um Unterstützung gebeten haben. Beide Mengen unterscheiden sich erheblich. Für die meisten Ratsuchenden würde eine öffentliche Eskalation ihres Falls den Schaden nur verschlimmern, solche Unterstützungen sind strikt vertraulich.

Durchsetzung von Grundrechten als Rechtsextremismus

Frau Rauch steigert ihre Meinung, das Netzwerk würde „das Narrativ“ der Neuen Rechten, Rechtsextremistinnen und anderer verfassungsfeindlicher Organisationen stärken, in einer Folgepublikation noch einmal im Tonfall. Sie wiederholt u.a. die Falschbehauptung, „dass sich eine Vielzahl der Beiträge aus dem Netzwerk gegen Genderdiversität und Migration richten„, versucht sich mit Kontaktschuldargumenten und vergleicht den fehlenden Widerstand Dritter gegen das Netzwerk mit den Ursachen für den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie:

Damals machten sich viele zu Erfüllungsgehilfen des „Dritten Reiches“ und zu Anstiftern von Menschheitsverbrechen, nur um sich nach dem Krieg auf die Position zurückzuziehen, lediglich reine, apolitische Wissenschaft betrieben zu haben.

Ihre Einschätzungen und historischen Vergleiche untermauert sie mit Ferndiagnosen der Art „Zudem scheinen nicht alle Lehrstuhlinhaber zur Selbstkritik fähig.“ Kommentare zur Qualität dieser Argumentationen erübrigen sich.

Fazit

Man kann infrage stellen, ob ein close reading einer offensichtlichen Schmähschrift wie Rauch, 06.02.2024 sinnvoll bzw. keine Zeitverschwendung ist, zumal wenn sie auf einem Medium mit beschränkter Reichweite erscheint.
Andererseits vergiften die Falschaussagen, die Begriffs- und Denkfehler und die Rufschädigungen das Debattenklima in ähnlicher Weise wie Einlassungen der AfD, die ebenfalls gerade noch legal sind, in Wirklichkeit aber kaum kaschierte Hetze. Man kommt nicht umhin, sie einzeln zu widerlegen, sie entwickeln sonst zu viel Eigenleben und pervertieren auf Dauer grundlegende Begriffe, hier insb. den Begriff Wissenschaftsfreiheit.

Die Einlassungen von Frau Rauch dokumentieren eindrücklich den politischen Skandal, daß eine Universitätsleitung Grundrechte, speziell das Grundrecht Wissenschaftsfreiheit, anscheinend nicht verstanden hat und es für „gefährlich“ hält, es bei mißliebigen Wissenschaftlern zu schützen. Sie dokumentieren ferner das ideologische Klima, das offenbar in den Leitungsebenen der TU Berlin und wahrscheinlich in einigen weiteren großen Hochschulen herrscht, namentlich die Unterordnung aller Wissenschaft unter eine ideologische Agenda.

Es bleibt noch viel zu tun für das Netzwerk.

 

Referenzen

  1. Elliot Ackerman, et al.: A Letter on Justice and Open Debate. Harper’s Magazine, 07.07.2020.
  2. Urteil des Ersten Senats vom 29. Mai 1973. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 35, 79 CII, 29.05.1973.
  3. Bradley Campbell, Jason Manning: The Rise of Victimhood Culture: Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars. Palgrave Macmillan, 15.02.2018.
  4. Jan Freyn: Ich mag verdammen, was du sagst, ABER. ZEIT Online, 11.10.2020.
  5. Klaus Ferdinand Gärditz: Die äußeren und inneren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftsrecht 51:1, p.5-44, DOI 10.1628/wissr-2018-0002, 03.2018.
  6. Hendrik Jacobsen: Der kollegiale Hochschullehrerbegriff. Wissenschaftsrecht 51:1, S.89-115, DOI 10.1628/wissr-2018-0004, 03.2018.
  7. Alexander Kissler: Ob Islam, Klima oder Migration: Die Nebenkosten der Meinungsfreiheit können enorm sein. NZZ, 14.09.2023.
  8. Wolfgang Kubicki: Meinungsunfreiheit – Das gefährliche Spiel mit der Demokratie. Westend, 05.10.2020.
  9. Geraldine Rauch: „Die Aktivitäten des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit sollten uns mit tiefster Sorge erfüllen“. table.media, 06.02.2024.
  10. Geraldine Rauch, Jürgen Zimmerer: jmwiarda.de. Die Demokratie muss auch in der Wissenschaft verteidigt werden, 23.02.2024.
  11. Thomas Thiel: Die Grenze der Redefreiheit markiert das Strafrecht. FAZ, 07.02.2024.

 

Anmerkungen

(1) Die Funktion von Art. 5(3) als individuelles Abwehrrecht wird im wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29.05.1973 klar benannt: „(C II 1.) Das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe und steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will.
(2) Die Meinungsäußerungsfreiheit hat natürlich Grenzen, u.a. berechtigt sie nicht zu Beleidigungen, übler Nachrede oder unzutreffenden Tatsachenbehauptungen über andere.
(3) Einen Anspruch, alle Verletzungen von Art 5(3) in den letzten Jahren zu dokumentieren, kann das Netzwerk auf keinen Fall erfüllen. Beispielsweise ist es nahezu sicher, daß es im Rahmen der COVID-Maßnahmen und dem dort herrschenden politischen Druck zu erheblichen Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit gekommen ist. Die justiziablen Fälle, die nicht nur Verletzungen der Meinungsfreiheit, sondern auch Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit waren, zu finden und hinreichend genau zu dokumentieren, ist eine Sisyphusarbeit und ggf. Gegenstand künftiger Dissertationen.