Publikationswesen und Vertrauen in die Wissenschaft

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Ein Beitrag von Wolfgang Dreybrodt

Zusammenfassung

Die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen ist in vielen Feldern so stark angestiegen, dass es für die meisten Wissenschaftler fast unmöglich ist, all diese Arbeiten zu lesen. Die Qualität der Arbeiten verliert deshalb für die Karriere der Autoren an Bedeutung. Stattdessen gewinnen zur Beurteilung eines Wissenschaftlers die Zahl der Publikationen in angesehenen Fachjournalen und die Zahl ihrer Zitate. Wahrnehmung wird wichtiger als wissenschaftlicher Fortschritt. Im Rauschen all dieser Arbeiten besteht die Gefahr, dass gute zum Fortschritt der Wissenschaft wichtige Arbeiten weniger beachtet werden. Dies erzeugt einen enormen Publikationsdruck, bei dem Qualität an Bedeutung verliert. Sichtbar wird dies an der Zahl der Autoren einer Publikation. In vielen Feldern sind 10 oder mehr Koautoren nicht mehr ungewöhnlich.

Die Konsequenzen werden in einer Untersuchung des Publikationswesens deutlich. Die Rolle der Professoren, der Doktoranden, der Gutachter (peer-reviewer), der Verlage und der DFG als Geldgeber und Entscheider werden dargestellt. Es zeigt sich eine Tendenz, die wissenschaftliche Qualität, die freie Wahl der Forschungsthemen und damit die Freiheit der Wissenschaft bedroht.

Einleitung

Wenn ein junger Wissenschaftler seine erste Veröffentlichung entworfen und seinem Chef vorgelegt hat, stellt er fest, dass die endgültige Fassung Ko-Autoren enthält, die nichts oder nur sehr wenig zu der Arbeit beigetragen haben. Dies ist für ihn frustrierend. Es mindert den Wert seiner Arbeit. Aber es mindert auch seine Verantwortung am wissenschaftlichen Inhalt. Viele Nachwuchswissenschaftler stehen unter hohem Zeitdruck und dem Zwang ranghöherer Ko-Autoren zu publizieren. Darunter leiden die wissenschaftliche Sorgfalt und die Gültigkeit der Ergebnisse. Auf Dauer ist damit das Vertrauen in die Wissenschaft gefährdet.

Viele Ko-Autoren nutzen ihre Stellung im akademischen Machtgefüge, um ihren Namen auf Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlern zu setzen, ohne wesentliche eigene wissenschaftliche Leistung. Diese Raub-Autoren beuten die Kreativität junger Wissenschaftler für ihre Zwecke aus.

An einer alten traditionsreichen Universität in Deutschland gibt es einen Schwerpunkt für Klimaforschung mit drei Professuren. Seine Erfolgsbilanz 2017: 61 peer-reviewed Publikationen. Die durchschnittliche Anzahl der Autoren pro Veröffentlichung ist 7. Wie weltweit üblich, steigt auch hier die Zahl der Autoren pro Veröffentlichung stetig an.

Der Leiter eines Universitätsinstitutes für Paläoklimatologie mit guter technischer Ausstattung für aufwändige und notwendige Routinemessungen bringt es im Jahr 2021 auf 42 Publikationen. 12 davon mit 3 bis 5 Autoren, 22 mit 6 bis 10 und 8 mit 11 bis maximal 21 Autoren. Wie schafft das ein Professor neben seinen anderen Verpflichtungen ??

Diese Beispiele sind charakteristisch für die Naturwissenschaften und die Medizin, weltweit. In den Geowissenschaften ist die mittlere Zahl der Autoren 9, in den Umweltwissenschaften 6, in der Medizin 11 und in der Biochemie, Genetik, Molekularbiologie 17, gemittelt von 2010- 2016 (Berliner Zeitung , 10. Juli, 2017). Im Journal of the American Chemical Society, Ausgabe vom 1. 1. 1965, hatten 14% der Arbeiten einen Autor, 43% zwei Autoren, 25% drei Autoren und 18% mehr als drei Autoren. In der Ausgabe vom 31. 12. 2011 waren die entsprechenden Zahlen 0, 14, 25 und 61%. (Wyat P. J., Physics Today, 2012, 65, 9). https://physicstoday.scitation.org/doi/full/10.1063/PT.3.1499 Ähnliche Zahlen findet man für andere führende Zeitschriften wie Nature und Science. Dies zeigt einen dramatischen Wandel im Publikationswesen mit tiefgreifenden Folgen für Qualität und Zuverlässigkeit der Wissenschaft.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) stellt fest:

Als Autoren einer wissenschaftlichen Originalveröffentlichung sollen alle diejenigen, aber auch nur diejenigen, firmieren, die zur Konzeption der Studien oder Experimente, zur Erarbeitung, Analyse und Interpretation der Daten und zur Formulierung des Manuskripts selbst wesentlich beigetragen und seiner Veröffentlichung zugestimmt haben, das heißt, sie verantwortlich mittragen.“

Ist diese Forderung bei so vielen Ko-Autoren zu erfüllen? Der Hinweis auf Interdisziplinarität ist nur selten richtig. Die meisten Publikationen stammen aus Dissertationsvorhaben, in der Regel mit Drittmitteln finanziert. Hier ist meist zu Recht der Doktorvater letzter Autor. Die anderen Ko-Autoren sind oft Mitglieder des sozialen Netzes des Doktorvaters. Man trifft sich auf Konferenzen, redet über die Arbeit, hat eine Idee dazu und wird vom Doktorvater als Ko-Autor vorgeschlagen, natürlich auf Gegenseitigkeit. Oder man hat ein Labor, in dem von Technikern ohne Kenntnis des wissenschaftlichen Hintergrundes Routinemessungen an von Doktoranden erstellten Proben durchgeführt werden. Ohne Ko-Autorenschaft keine Messungen. „Andere betreiben einfachen wissenschaftlichen Warentausch: „Sie geben z. B. fötale Zellen nur gegen die vertragliche fixierte Zusicherung aus der Hand, bei jeder Publikation, die aufgrund der Auswertung dieses wertvollen Zellmaterials entsteht, als Koautor angeführt zu werden.“ Oder: „Wichtige Bakterien-, Viren-, Zellkulturen machen Wissenschaftler einander auch zum Geschenk – oft aber mit der vertraglichen Verpflichtung, auf jeder Veröffentlichung, die auf Basis jener Kulturen erscheint, als Koautor genannt zu werden.“ (Fröhlich, G., 2006: Plagiate und unethische Autorenschaft. Information–Wissenschaft & Praxis,57(2), 81-89) http://eprints.rclis.org/7416/1/plagiate.pdf

Aus solchen Machtstellungen gelangt man zu Autorenschaften, ohne wissenschaftliche Leistung zu erbringen. Dies ist der DFG bekannt und wird geduldet. Es gibt viele Möglichkeiten die Machtstellung im wissenschaftlichen Umfeld zur Erlangung von Ko-Autorenschaften zu missbrauchen. Wie kann denn sonst der Rektor der Universität Bremen und ehemaliger Vizepräsident der DFG in 10 Jahren zu mehr als 600 Veröffentlichungen kommen? Und dies ist nur ein Beispiel.

Publikationen sind heute das Bargeld der Wissenschaft. Ohne eine hinreichende Zahl von Publikationen, die auch zitiert werden, gemessen am h-index, ist eine wissenschaftliche Laufbahn kaum noch möglich. Viel-Autorenschaften führen zu Zitier-Kartellen, die den h-index erhöhen und ihn ad absurdum führen. Trotzdem ist der h-index wichtiges Kriterium bei der Einwerbung von Drittmitteln, bei Stellenbesetzungen und bei vielen Entscheidungen über die wissenschaftliche Karriere. Wie in jedem Geldsystem gibt es auch hier Fälscher, die als Raubautoren die Kreativität ihnen unterstellter Wissenschaftler zu ihrem eigenen Nutzen ausbeuten. Um klarzustellen, nicht jeder Ko-Autor ist ein Fälscher, aber viele sind es. Sie verbergen sich unter den ehrlichen und es ist schwer, ihnen etwas nachzuweisen. Auch deshalb, weil die Richtlinien der DFG sehr interpretationsfähig sind und der Wille, Verstöße zu verfolgen, sehr schwach ist. So ist zu verstehen, dass ein (ehemaliger) Vizepräsident der DFG Publikationszahlen aufweist, die solche Verstöße nahelegen. Die DFG weiß Bescheid, reagiert aber hilflos. Es ist wie in einem Domino-Effekt. Fällt einer, fallen alle, also fällt keiner.

Die Rolle der DFG

Nach der Satzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG): „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft dient der Wissenschaft in allen ihren Zweigen durch die finanzielle Unterstützung von Forschungsaufgaben und durch die Förderung der Zusammenarbeit unter den Forschern.“ verwaltet die DFG drei Milliarden Euro öffentliche Mittel von Bund und Ländern. Mit diesen Geldern wird ein großer Teil der Forschung an Universitäten finanziert. Wissenschaftler der Universitäten können Mittel für ihre Forschungsvorhaben beantragen.

Wer einen Antrag für ein Forschungsprojekt bei der DFG stellt, hat deutlich höhere Chancen auf Erfolg, wenn er auf dem Forschungsgebiet von Fachkollegen zur Veröffentlichung empfohlene (peer review) Publikationen vorlegen kann. Bleibt zu fragen, wie die Chancen auf Förderung wirklich innovativer aber auch Risiko reicher Vorhaben sind, für die noch keine Publikationen vorliegen! Der Erfolg eines Projektes im Abschlussbericht wird ebenfalls an den in der Regel im Verlauf des dreijährigen Projektes publizierten Arbeiten gemessen. Weil in zukünftigen Anträgen der Professoren der Erfolg der früheren Projekte eine wesentliche Rolle spielt, erwarten inzwischen viele Professoren von ihren Doktoranden mehrere Publikationen. Diese werden dann in einer kommentierten Zusammenstellung als kumulative Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades anerkannt. Da diese Arbeiten in etwa drei Jahren erstellt werden müssen, leidet die wissenschaftliche Qualität. Eine kumulative Dissertation an der Universität Heidelberg basiert auf drei Veröffentlichungen, die erste mit 10 Autoren, die zweite mit 6 und die dritte mit 12.

Der durch die Drittmittelgeber erzeugte Druck auf die Wissenschaftler führt zu einer Flut von Publikationen mit vielen Autoren. Dies überfordert das Peer-Review System und gefährdet das Vertrauen in die Wissenschaft. Außerdem droht die Gefahr, dass wirklich gute Artikel im Rauschen mittelmäßiger Arbeiten untergehen.

So forderte Professorin Helga Nowotny, ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, „die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in den nächsten zehn Jahren zu halbieren, um die Qualität entsprechend zu steigern.“ Das Peer-Review-System stehe „weltweit am Rand des Kollapses, da es die Fülle an Publikationen nicht mehr angemessen verarbeiten kann.“ (DHV-Newsletter 8/2018).

Raubautorenschaft (Ko-Autorenschaft), die die Kreativität junger Doktoranden ausbeutet, wird gefördert durch die in DFG-Anträgen gestellten Frage nach „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen für dieses Vorhaben eine konkrete Vereinbarung zur Zusammenarbeit besteht“. Diese Partner erheben oft ohne signifikanten Beitrag Anspruch auf Ko-Autorenschaft. Das klingt dann z.B. so: „Alle im Rahmen des Projekts produzierten Daten werden in enger Zusammenarbeit mit den oben genannten Kollegen ausgewertet, interpretiert und diskutiert werden.“ Gemeint ist allerdings publiziert werden.

Die DFG hat ihre Richtlinien für die Publikationslisten in Anträgen geändert. In der Presseerklärung Nr.8 vom 28. März, 2014 titelt sie,Bei Förderanträgen und Abschlussberichten bis zu zehn Angaben in Projektverzeichnissen und wissenschaftlichem Lebenslauf möglich“ /„Weiter klare Obergrenzen und Qualität statt Quantität. Soll dies das Problem beheben, wohl kaum.

Die Rolle der Professoren

Die Professoren stehen unter erheblichem Druck, seitdem Drittmitteleinwerbung eine ihrer wichtigsten Dienstaufgaben geworden ist, die Einfluss auf ihr Ansehen und Einkommen hat. Sie werden so zunehmend Wissenschaftsmanager auf Kosten eigener Forschung.

Die Zahl der Zitate (h-index) ist für ihren Erfolg essentiell. Durch Viel-Autorenschaften steigt die Zahl der Zitate. Kein Wunder, dass sich Zitier-Kartelle bilden. 10 mal als Koautor mit wenig Beitrag zum Paper aufzutreten, bringt sehr viel mehr Zitate als einmal Ko-Autor mit signifikantem Input gemeinsam mit seinem Doktoranden zu sein. Man zitiert sich innerhalb der Netzwerke der Ko-Autoren gegenseitig. Daher explodiert die Zahl der Zitate in den Publikationen. 60 Zitate sind inzwischen fast die Norm. Dabei wären zum Verständnis der Arbeit sehr viel weniger Zitate erforderlich. Es ist offensichtlich, dass die Regeln der DFG und das Verhalten der Professoren, aber auch das der Wissenschaftler am Beginn ihrer Karriere sich gegenseitig verstärken. Dies ist auch nicht verwunderlich, sitzen doch viele der Sünder in den Gremien der DFG. Die Praxis der Vielautorenschaft ist nicht neu und viele der jungen Professoren mit dieser Erfahrung halten sie für so normal, dass sie sich völlig im Recht fühlen und jede Kritik daran zurückweisen. Auf diese Weise wird Fehlverhalten über Generationen vererbt.

Die Rolle der Doktoranden

Der Doktorand ist der schwächste Teilhaber im System. Ein Doktorand, der es wagen würde, dagegen zu protestieren, hat schlechte Karten. Sein Chef bewertet seine Promotion. Er verlängert seinen Zeitvertrag und schreibt vielleicht später Gutachten über ihn, die er nie zur Kenntnis bekommt. Ihm kann auf vielfältige Weise die Unterstützung seines Projektes entzogen oder aber auch gewährt werden, z.B. Teilnahme an Konferenzen. Diese Machtstruktur ist ihm klar. Ich habe auf Poster-Sessions der internationalen Konferenz der EGU (European Geosciences Union) 2016 und 2017 in Wien Doktoranden nach ihren Ko-Autoren und deren Beiträgen befragt. Viele erklärten, dass die meisten der Ko-Autoren kaum etwas beigetragen hätten und dass sie das nicht für gut hielten. Sie meinten, ihre Leistung würde durch die vielen Autoren abgewertet. Aber dies sei eben so, da könne man nichts machen. Einige kannten nicht alle der Ko-Autoren auf ihrem Poster. Andere glauben allerdings, dass die Namen bekannter Wissenschaftler auf der Autorenliste ihrer Arbeiten deren Publikation erleichtere und für ihre Karriere günstig sei.

Doktoranden stehen unter massiven Zwängen. Drittmittelgeber und die Universität erwarten mehrere Publikationen, die er im Laufe des Promotionsprojektes zu liefern hat. Er steht unter dem Druck des Systems „Publish or Perish“. Es ist daher naheliegend, dass die wissenschaftliche Sorgfalt leidet. Messungen, die eigentlich wiederholt werden müssten, werden kreativ behandelt. Eine neue Idee, die die Ergebnisse untermauert, kostet zu viel Zeit und wird deshalb nicht weiterverfolgt. Fakten, die die Ergebnisse der Arbeit in Frage stellen, werden verschwiegen. Solange seine meist ranghöheren Koautoren dies nicht bemerken, und dies ist in der Regel so, ist er entschuldigt. Sorgfältige wissenschaftliche Arbeit ist gefährdet. Veröffentlichungen dienen eben vorrangig der Karriere und erst in zweiter Linie dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis, denn oft kann „die bloße Länge der Publikationsliste einen starken Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg in Berufungsverfahren haben“, Forschung und Lehre,5, 428, 2019. All dies dient nicht der Entwicklung wissenschaftlicher Ethik.

Die Rolle der Verlage

Der weltweit größte Verlag ist Elsevier mit einem Jahresumsatz in 2017 von 2,7 Milliarden Euro und einer Umsatzrendite von 37 Prozent. (DIE ZEIT Nr. 31/2018, 26. Juli 2018). 1,6 Millionen Artikel sind 2017 eingereicht worden. Davon wurden ca. 30 Prozent veröffentlicht, in 2500 Zeitschriften, viele davon mit exzellentem Ruf (DIE ZEIT Nr. 31/2018, 26. Juli 2018). Dieses rigide Review-System bringt den Zeitschriften von Elsevier ein hohes Ansehen und damit Wettbewerbsvorteile.

Elsevier verlangt von den Autoren keine Publikationsgebühren, lässt sich von ihnen aber das Copyright übertragen. Die Reviewer arbeiten aus der Verpflichtung gegenüber wissenschaftlichen Prinzipien ohne jegliches Honorar. Elsevier erwirtschaftet seine Gewinne durch überhöhte Forderungen an Bibliotheken.

Einer Reihe deutscher Bibliotheken, die diese hohen Preise nicht mehr tragen wollten, wurde der Internet-Zugang für alle Publikationen des Verlags ab 2018 bis heute gesperrt. Wer im Internet einen Artikel herunterladen will, muss dafür etwa 30 USD bezahlen. Autoren können aber gegen Gebühren von je nach Zeitschrift zwischen 500 USD und 5.000 USD ihre Arbeiten auch open access stellen, d. h. die Artikel sind im Internet für jeden frei verfügbar. Es steht außer Frage, dass eine hohe Zahl von Publikationen, die auch immer länger werden, im wirtschaftlichen Interesse des Verlages liegt. Mit der Zahl der Ko-Autoren steigt auch die Zahl der Zitate und damit der Impact-Faktor, eine Qualitäts-Kennzahl der Zeitschrift. Von hier ist kein Druck zur Einhaltung wissenschaftsethischer Prinzipien zu erwarten.

Die Rolle der Reviewer

Im Peer-Review Verfahren beurteilen mindestens zwei Fachkollegen (Peers), die im Themenfeld der eingereichten Arbeit wissenschaftlich ausgewiesen sind, unabhängig voneinander und anonym die Qualität der Arbeiten. Sie geben eine Empfehlung, ob das Papier abzulehnen ist, publiziert werden kann oder Änderungen notwendig sind. Sie werden von den Verlagen vorgeschlagen. Diese ehrenamtliche Tätigkeit erfordert viel Zeit. Bei der Komplexität und Vielfalt heutiger Themen ist selten ein Gutachter in der Lage, alle Details der Arbeit nachzuvollziehen. Er achtet vielmehr auf den generellen Eindruck der Arbeit. Dabei ist er auf die Ehrlichkeit der Autoren angewiesen. Man kann kritische Punkte in Nebensätzen verstecken oder ganz verschweigen. Messdaten kann der Gutachter nur auf Stimmigkeit überprüfen. Kreative Behandlung kann er kaum erkennen. In vielen Arbeiten wird fehlende wissenschaftliche Durchdringung durch wortreiche Formulierung ersetzt. In der Konsequenz werden die Arbeiten länger und schwer lesbar. All dies hebelt das Review-System aus. Die Frage, ob alle Autoren wesentlich beigetragen haben, wird in den Gutachten tabuisiert, obwohl manchem Reviewer aus dem Zirkel des Themenbereiches die Autoren bekannt sind. Außerdem pflegen viele Gutachter ebenfalls Viel-Autorenschaft. Trotzdem ist es wie mit der Demokratie. Ein unzureichendes System, aber es gibt kein besseres. Die Ablehnung von zwei Dritteln der eingereichten Arbeiten bei Elsevier belegt das.

Allerdings ist die Behauptung der DFG und anderer, dass eine Arbeit, die diese Prozedur durchlaufen hat, außer Zweifel steht, fragwürdig. Ein Doktorand, den ich auf eine falsche Behauptung in seinem Papier hinwies, antwortete: „Vielleicht sagen die Reviewer etwas zu dem Problem, dann füge ich sie in der nächsten Runde mit ein.“ Die Reviewer haben es nicht bemerkt. Die Arbeit wurde so veröffentlicht. So wird die Verantwortung auf die Reviewer abgeschoben. Ähnlich die DFG. Auf einen kontroversen Abschlussbericht, in dem Ergebnisse bezweifelt worden waren, war die Antwort des Gutachters: Trotzdem würde ich beide Berichterstatter entlasten, da die Ergebnisse in internationalen peer-reviewten Zeitschriften publiziert wurden bzw. werden.“

Der Rektor der Universität Bremen und ehemalige Vizepräsident der DFG rechtfertigt die Qualität seiner im Raubverlag WSEAS veröffentlichten 31 Arbeiten so: „Der Verlag, bei dem diese Publikation erschienen ist, steht heute unter dem Verdacht, ein Raubverlag zu sein. Der Beitrag ist auf Basis eines drittmittelfinanzierten Forschungsprojektes entstanden. Er ist Teil des Projekt-Abschlussberichts, der durch anonyme Gutachter geprüft wurde. Diese äußerten keine Kritik an der Publikation.“ (http://www.biba.uni-bremen.de/forschung/publikationen.html#pub102). Auf diese Aussage angesprochen, wollte die DFG keine Stellungnahme abgeben.

Zusammenfassend, das Peer-Review System schützt vor Publikationen mit niedrigem Niveau. Es kann aber nicht die Gültigkeit der in Publikationen dargestellten Erkenntnisse garantieren. Die Verantwortung bleibt am Ende bei den Autoren. Im Falle von Viel-Autoren-Arbeiten relativiert sie sich und ein Verantwortlicher wird schwer zu finden sein, weil jeder sich hinter jedem verstecken kann. Nur der kritische Leser kann Fehler erkennen. Aber kann er sie auch in der Community erörtern? Bei dem heutigen Verlagswesen unwahrscheinlich.

Einen Ausweg könnte das Verfahren der European Geosciences Union durch den Verlag Copernicus Publications bieten. Hier wird das eingereichte Manuskript open access ins Netz gestellt. Jeder kann es open access kommentieren. Zwei anonyme Peers begutachten die Arbeit. Die eingereichte Arbeit, die Kommentare, die Reviews, die Antworten der Autoren und das revidierte Manuskript bleiben bei Ablehnung oder Annahme im Netz. So sorgt man für Transparenz, die Elsevier und viele andere kommerzielle Verlage nicht ermöglichen.

Ausblick

Es hat sich etwas grundlegend verändert in den letzten 20 Jahren. Wissenschaftliche Arbeit ist zur Massenproduktion von „papers“ geworden. Wichtig ist, dass sie publiziert werden. Sorgfalt und Qualität werden bei Viel-Autoren-Kollektiven oft zweitrangig.

Gerade dort, wo die Ergebnisse der Forschung politische Konsequenzen haben, wie z.B. in der Klimaforschung, ist äußerste Sorgfalt unabdingbar und Gegenargumente müssen beachtet werden. Das oft vorgebrachte Argument, dass 95% der Klimaforscher vom durch Menschen verursachten Klimawandel überzeugt sind, ist ein politisches, aber kein wissenschaftliches. Hätte man damals ähnliche Fragen zu Einsteins Relativitätstheorie gestellt, wäre die Mehrheit der Physiker davon überzeugt gewesen, dass diese Theorie falsch ist. Erkenntnis ist eben ein individueller Prozess.

Das Problem ist seit langem bekannt und es gibt viele Veröffentlichungen darüber. Sie werden aber tabuisiert. Die DFG, die Max-Planck-Gesellschaft und viele Universitäten haben sich Leitlinien zur Sicherung „Guter wissenschaftlicher Praxis“ gegeben (DFG, 2013: Denkschrift „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“).

Zur Autorenschaft findet man hier: „Als Autoren einer wissenschaftlichen Originalveröffentlichung sollen alle diejenigen, aber auch nur diejenigen, firmieren, die zur Konzeption der Studien oder Experimente, zur Erarbeitung, Analyse und Interpretation der Daten und zur Formulierung des Manuskripts selbst wesentlich beigetragen und seiner Veröffentlichung zugestimmt haben.“ https://www.uni-heidelberg.de/md/zentral/einrichtungen/verwaltung/innenrevision/empfehlung_wiss_praxis_1310.pdf

Schon diese interpretationsfähigen Formulierungen zeigen, welche Interessen eingeflossen sind. Entsprechend ist die Handhabung. Nach außen gibt man die Einhaltung guter wissenschaftlicher Praxis vor, die man aber innen nicht durchsetzt. Auch die Einrichtung des Ombudsmanns zur Vermittlung in Konflikten und mit der Option, bei Fehlverhalten höhere Gremien zu befassen, ist oft wirkungslos. An den Universitäten und in der DFG geraten sie in einen Interessenkonflikt, weil die konsequente Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens die Reputation der eigenen Institution beschädigen könnte.

2019 änderte die DFG die Leitlinien. Der Text lautet nun:

Autorin oder Autor ist, wer einen genuinen, nachvollziehbaren Beitrag zu dem Inhalt einer wissenschaftlichen Text-, Daten- oder Softwarepublikation geleistet hat. Alle Autorinnen und Autoren stimmen der finalen Fassung des Werks, das publiziert werden soll, zu. Sie tragen für die Publikation die gemeinsame Verantwortung, es sei denn, es wird explizit anders ausgewiesen.“ https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf

Nebenbei, ein genuiner nachvollziehbarer Beitrag wäre auch jede Leistung der Werkstatt oder von Technikern im Labor zum Versuchsaufbau, die dann auch Autorenschaft beanspruchen könnten.

Wenn sich das Paradigma wissenschaftlichen Arbeitens geändert hat, dann muss das deutlich gesagt werden. Der Steuerzahler hat darauf Anspruch. Es müssen dann auch die Konsequenzen für die Zuverlässigkeit der Wissenschaft erörtert und neues ethisches Verhalten erarbeitet werden. Wenn es nicht so ist, muss dieser Fehlentwicklung Einhalt geboten werden. Die DFG als der größte Drittmittelgeber aus öffentlichen Mitteln von derzeit 3,3 Milliarden Euro ist hier in der Pflicht. Wahrhaftigkeit ist oberster Grundsatz in der Wissenschaft. Dem muss auch die DFG verpflichtet sein. Oder nicht mehr?

Vielleicht gibt es Hoffnung. 2019 schrieb Prof. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft im Physik Journal einen kritischen Beitrag zum Zustand der Wissenschaftsgemeinschaft.

Vertrauen muss aber nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft gestärkt werden, um die Freiheit der Forschung zu fördern. Hürden liegen auch im wissenschaftlichen Anreiz­ und Belohnungssystem: Wenn vor allem quantitative Indikatoren die Leistung bemessen, also etwa die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen in bestimmten Journalen, oder wenn die Höhe der eingeworbenen Drittmittel über Erfolg und Karriere in der Wissenschaft entscheidet, erschwert das die freie Forschung zu weniger prominenten, aber vielleicht zukunftsträchtigen Themen. Gerade junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfolgen manche Ideen dann nicht weiter, wenn sie in hoch bewerteten Journalen wenig Aussicht auf Publikation haben. Diese Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit wird heute oft stillschweigend hingenommen und birgt die Gefahr, das Vertrauen in einen Grundpfeiler der Wissenschaft erodieren zu lassen: frei von Zwang einen Forschungsgegenstand zu wählen und unbefangen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Kurzum: Vertrauen erlangt die Wissenschaft durch Strukturen, die ihr Erkenntnisinteresse fördern, sowie durch kritisches Hinterfragen etablierter Verhaltensmuster, einschließlich ihres eigenen. Erst wenn sie dies immer wieder aufs Neue leistet, wird die Wissenschaft ihrer Verantwortung gerecht. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist dabei unabdingbar – als Grundlage für Neugier und Kreativität und damit für die Entwicklung genuin neuer wissenschaftlicher Ideen. https://www.pro-physik.de/restricted-files/136671

2020, in einer Sonderbeilage der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste erklärte er: „Unsere Rekrutierungs- und Reputationsmechanismen, die unsere eigene Freiheit einschränken [sind ein wichtiges Thema hinsichtlich Nachwuchsförderung]. Das liegt in den Naturwissenschaften zum Beispiel mit an der Monopolisierung durch wenige Zeitschriften: Wenn sie mit 30 noch kein Science Paper haben, sind viele berechtigterweise in Sorge, dass ihre Bewerbung um eine Junior-Professur im Stapel untergeht. Nehmen Sie den Chemie-Nobelpreisträger Stefan Hell: Der wurde über Jahre an keiner Hochschule eingeladen, weil der Paper Record fehlte. Die Hells dieser Welt brauchen wir, weil sie gegen den Strom schwimmen. Aber sie haben im Zitations-Reputationsgeschäft keine Chance. Wir kriegen die Runden, nicht die Eckigen, dabei lebt die Wissenschaft eigentlich vom Ungewöhnlichen.“ https://awk.nrw/fileadmin/user_upload/img/Publikationen_der_Akademie/AWK_Beileger_Sonderheft_Forschung_und_Lehre_Publikation.pdf

Zukunftsperspektiven unserer Wissenschaft beschreibt Prof. Strohschneider, bis 2019 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in einem Beitrag in der FAZ vom 19.07.2018:

„Die Kurzatmigkeit des Systems erhöht die Gefahr, dass der Neugier als intrinsischer Motivation des einzelnen Wissenschaftlers extrinsische Anreize den Rang ablaufen. Darunter leidet früher oder später die Qualität der Forschung. Es drohen Situationen, in denen risikobehaftete Projekte gar nicht erst in Angriff genommen werden und radikal neue Ideen keine finanzielle Unterstützung finden. Die beschriebenen Prozesse erzeugen einen Konformitätszwang, welcher der Grundidee von Wissenschaft widerspricht. Das führt zu Verwerfungen, die sich auf die Gruppe der jungen Wissenschaftler besonders negativ auswirken.“   https://www.faz.net/-gyl-9c7d2

Diese Aussagen führender Wissenschaftsmanager wurden nicht diskutiert sondern verschwiegen. Die Machtverhältnisse sind so verfestigt, dass die Basis keinen Widerstand wagt. Jeder weiß es, aber keiner handelt. Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter.

Wolfgang Dreybrodt