An meinen Denunzianten,
Vor einiger Zeit haben Sie unter dem Pseudonym „Meister der Kulturkritik“ eine anonimka gegen mich verfasst. So nannte man in der Sowjetunion anonyme Denunziationsschreiben an die zuständigen Organe der Staatssicherheit. Ich gebe zu, der Vergleich hinkt in dreierlei Hinsicht. Erstens richten Sie sich nicht an ein Staatsorgan, sondern an einen unbestimmten Adressatenkreis (an wen auch immer) Zweitens drohen mir wegen Ihrer Einlassungen keine Repressalien und wohl auch keine sonstigen Nachteile (auch, wenn Sie dies nicht wissen können). Drittens wären anonyme Schreiben seinerzeit von der Großen Sowjetischen Enzyklopädie niemals als Quelle angeführt worden. Bei Wikipedia ist man da offensichtlich weniger anspruchsvoll. Dies und nur dies ist der Grund, weshalb ich mich genötigt sehe, auf Ihre anonymen Anwürfe zu reagieren. Ich kann dabei nicht auf sämtliche unmotivierten Wortklaubereien eingehen, sondern beschränke mich auf die gröbsten Fehleinschätzungen und sachlich Falsches.
„Morgensterns kulturkritisches Œuvre“ – scheint das Ihnen nicht doch etwas überdimensioniert? Es geht immerhin um nicht mehr als zweieinhalb meiner viereinhalb publizistischen Texte. Vereinzelte YouTube-Videos nicht mitgerechnet. Auf das Amt eines Kulturkritikers habe ich mich sicher nicht beworben. Ich arbeite zu musikalischen und anderen Ausprägungen von Kultur und schreibe auch über Kulturkritik. Die Kritik ganzer kultureller Bestände ist nicht meine Aufgabe als Wissenschaftler. Ich habe auch nicht den Anspruch, gegen „den Zeitgeist“ (gegen welchen?) zu schreiben. Diesen gar „intellektuell [zu] erledigen“ mag tatsächlich ein „hoher Anspruch“ sein. Ich erhebe ihn allerdings nirgendwo.
An der postkolonialen Theorie habe ich tatsächlich einiges auszusetzen, zum Teil auch an politischer Vereinnahmung von Kunst. Was solche Gegenwartsfragen mit einem „Gefühl des kulturhistorischen Belagerungszustands“ zu tun haben sollen, erschließt sich mir nicht. Die „Theoriebewegung [sic!]“ des Postkolonialismus bezieht sich kaum auf „historische Gewalt“, sonst würde der Postkolonialismus grundlegende Werke zur Gewalt in der Geschichte (Rudolph Joseph Rummel, Steven Pinker) nicht ignorieren, die freilich die fixe Idee des [westlichen] Kolonialismus als weltweiten Hauptagenten der Gewalt stark in Frage stellen. Sie werfen mir vor „den Beleg, dass zentrale Vertreter*innen postkolonialer Theorie tatsächlich die Schoah relativieren“ schuldig zu bleiben. Dass ich auf die bahnbrechenden Studien von Ingo Elbe und Stephan Grigat verweise, erwähnen Sie nicht.
Judith Butler sehe ich durchaus nicht als „metaphysische Zumutung“ (was immer dies sein mag). Was ich an deren „Theoriebildung“ bislang zu kritisieren hatte, war ihr radikaler Konstruktivismus, die Idee der „erzwungenen Heterosexualität“ (Morgenstern 2011) und mit Susanne Schröter ihr Naheverhältnis zur Hamas mit ihrem eliminatorischen Antisemitismus.
Es trifft nicht zu, dass ich in der Presse vom 12.06.2025 mich mit dem „künstlerischen Konzept“ des Milo Rau kulturkritisch oder sonstwie auseinandergesetzt hätte. Dessen Kunst „in ihrer konkreten Form“ interessiert mich einfach nicht, wie Sie ja zutreffend bemerken. Was mich dagegen interessiert, ist Raus wenig originelles, aber wirkmächtiges ideologisches Weltbild – und die Frage, wie ein Regisseur mit durchaus begrenzter historischer Bildung, sich dazu versteigt, im Rahmen der Wiener Festwochen gleichzeitig eine „freie Republik“, ein „neues Evangelium“, und eine „zweite Moderne“ auszurufen – wie schon vorher ein „Weltparlament“. Es ist nicht primär „Raus künstlerisches Konzept“, das von mir „in die Nähe totalitärer Ideologien gerückt“ wird. In diese Nähe begibt sich Milo Rau schon selbst, ganz ohne fremde Hilfe. Ich erinnere an seine düster-kitschige Rezeption und Verherrlichung jenes Diktators, der 1917 die junge und schwache russische Demokratie nach einem Putsch im Blut ertränkt hat. Auch die Einladung des nicht sonderlich reumütigen deutschen Ex-Terroristen Karl-Heinz Dellwo zu den Wiener Festwochen 2025 gehört hierher.
Es trifft ebenfalls nicht zu, dass mein genannter Beitrag „die Wiener Festwochen innerhalb eines halben Satzes in die Nähe vom Eichmann und Himmler rückt“. Zwischen diesen und der Parole „From the river to the sea” besteht eine historisch belegbare Traditionslinie in Ideologie und politischer Praxis, auf die ich verweise. Ich verweise ebenso darauf, dass dies gerade nicht das Programm der Wiener Festwochen betrifft (Stand: Juni 2025). Sie behaupten dennoch eine „abenteuerliche Assoziationskette“.
Ferner werfen Sie mir „Cherry picking in Reinform“ vor, meine „argumentative Beweisführung“ gleiche „einem Weltgeschichts-Buffet“. Der Vorwurf des „Cherry picking“, impliziert die Leugnung oder das Verschweigen von Tatsachen. Sie scheinen aber keine meiner Argumentation zuwiderlaufenden Tatsachen zu kennen, die Sie als Gegenbeispiele anführen könnten. Meine Erklärung für die sehr häufig blutigen Konsequenzen einer systematisch eingeforderten „gesellschaftlichen Harmonie“ interessiert Sie nicht. Das einzige, was Sie in diesem Zusammenhang interessiert, ist Ihr eigenes unmotiviertes Missbehagen gegen meine Schlussfolgerungen.
Vollends ins Schleudern geraten Sie, wenn Sie versuchen, meine „politische Haltung“ darzulegen. Diese ist schon deshalb „schwer zu fassen“, weil ich in meinen gelegentlichen publizistischen und selbstverständlich in meinen Fachtexten politische Positionierungen vermeide, soweit diese wesentlich über meine Forschungsfelder hinausgehen, zu denen zwei der drei totalitären Ideologien gehören.
Sie sehen mich als „reaktionären Aufklärungsverteidiger“, was immer das sein mag, dann wieder unterstellen Sie mir „klassischen Kulturkonservatismus“. Sie bringen beide Begriffe durcheinander – und ohne jeden sachlichen Grund mit mir in Verbindung. Tatsächlich setzte ich mich recht häufig mit reaktionären Strömungen in Geschichte und Gegenwart auseinander, übrigens auch in einem der Ihnen bekannten Texte. Hierher gehören: Maschinenstürmer, Lebensreform, Technophobie, völkische Ideologien, reaktionärer Philoruralismus und Antikapitalismus, rechts- und linksidentitäre Tendenzen sowie postkolonialer (Ingo Elbe) und projektiver (Stephan Grigat) Antisemitismus.
Was ist in Ihren Augen an meinen Texten reaktionär? Ich darf voraussetzen, dass Sie nicht das diffuse Schimpfwort mit seinen schönen Konsonantenclustern verwenden (gerne gesteigert als „erzreaktionär“), sondern die Bezeichnung für Bestrebungen, die auf die Wiederherstellung einer sozialen Ordnung der Vergangenheit abzielen. Welches ist dann in Ihren Augen die soziale Ordnung, deren Wiederherstellung Sie mir als Absicht unterstellen? Meinen Sie die Germania des Tacitus? Die germanischsprachigen Provinzen des Römischen Reichs? Das Heilige Römische Reich? Das Deutsche Kaiserreich? Die Habsburger Monarchie? Die Demokratien der Zwischenkriegszeit? Die NS-Zeit können Sie nicht meinen – schon weil die Nationalsozialisten als Revolutionäre selbst erklärte Feinde der „Reaktion“ waren, was anschaulich im Text des Horst-Wessel-Liedes nachzulesen ist. Oder meinen Sie spätpatriarchalen Verhältnisse bis ca. 1968?
Mein „Kulturkonservatismus“ zeigt sich Ihrer Meinung nach „in der Ablehnung gesellschaftlicher Utopien, ob republikanischer Liebe, universeller Gerechtigkeit oder dekolonialer Transformation“. Von „republikanischer Liebe“ höre ich zum ersten Mal. Universelle Gerechtigkeit müsste auf einem universell anerkannten Rechtsverständnis beruhen. Die Idee der Menschenrechte geht in diese Richtung, wird aber von allen drei totalitären Ideologien in Theorie und Praxis bekämpft und neuerdings postkolonial als „westliche Erfindung“ gebrandmarkt. Was historisch korrekt, einigen Ideologen aber ein Dorn im Auge ist. Ansonsten sprechen gute Gründe und schlechte Erfahrungen gegen die meisten Utopien. Bleibt Ihre „dekoloniale Transformation“. So Sie nicht die historische Realität der Entkolonialisierung meinen – demokratische Gesellschaft nach einem vordefinierten Kriterium umzugestalten, ist ein genuin totalitärer Anspruch.
Ein Letztes: Wieso unterstellen Sie mir eine fortwährende „Skepsis gegenüber allem, was sich mit Emanzipation […] beschäftigt“. Mit Emanzipation kann man sich auf verschiedenste Weise beschäftigen – theoretisch, praktisch, negativ, positiv. Auf mich trifft Letzteres zu, wie Sie an vielen Stellen nachlesen können (Morgenstern 2011). Für eine „Generalabrechnung mit der westlichen Linken“ taugen meine Texte schon gleich gar nicht, zumal ich mich gerne und mit Gewinn auf Vertreter der Linken beziehe, von denen ich stellvertretend für viele andere Vojin Saša Vukadinović, Ingo Elbe, Robert Pfaller und Stephan Grigat nennen darf.
Korrektur am Rande: Die „Sargnägel des Feminismus“ sind nicht „Alice Schwarzers Diktum von Judith Butlers Philosopie“, wie ich fälschlicherweise in der Presse vom 16.09.2021 behauptet habe. Die Formulierung stammt nicht von Schwarzer, sondern von Vojin Saša Vukadinović („Sargnägel des Feminismus“, EMMA, 28.06.2017).
Nun stellt sich mir die Frage, wie es kommt, dass ausgerechnet Ihre anonyme „lose verknüpfte Kette aus Assoziationen, Übertreibungen und selektiven Beispielen“ (diese Formulierung gebe ich Ihnen gerne zurück) von Wikipedia als zitierfähig angesehen wird. Wobei auffällt, dass Wikipedia in der recht selektiven Kritik meiner Schriften sich fast ausschließlich auf die wenigen von Ihnen angeführten Quellen stützt. Als „Kritiker von Morgensterns Beiträgen“ wird außer Ihnen lediglich der in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Historiker Danilo Scholz genannt. Dieser argumentiert gegenüber Susanne Schröter und mir für eine frühe Distanz von Aimé Césaire zum Sowjetkommunismus (wobei er dessen Loyalität zu Stalin nicht leugnet). Sachlich widerspricht freilich weder das eine noch das andere seiner Charakterisierung als „unversöhnlichem Kommunisten“. Wenig überzeugt auch Scholz‘ Einwand gegen die Einschätzung der Rezeption von Léopold Sédar Senghor: „Dass er von postkolonialen Lektürelisten verschwunden sei, ist schlicht Humbug“. Wenn über Senghors Rolle in der Geschichte „Eurafrikas“ „immer noch leidenschaftlich gestritten“ wird, ist dies kein Gegenargument gegen seine Vernachlässigung in den postkolonialen Studien, zumal der von Scholz zitierte Historiker Frederick Cooper sich dem Vernehmen nach zwar mit der Epoche der Entkolonialisierung, weniger aber mit postkolonialen Erklärungsmustern befasst – was nicht das Gleiche ist. Leider verlässt Scholz, nach seiner Detailkritik zu einem Seitenthema unseres Beitrags in der FAZ und ihrer kenntnisreichen Weiterführung, das Feld der sachlichen Auseinandersetzung, wenn er gegenüber Susanne Schröter und mir von „pauschalisierendem Geschwätz“ spricht, ohne auf unsere Kernaussagen einzugehen.
Was Wikipedia mir gegenüber ansonsten ins Feld führt, scheint eher für eine argumentative Verzweiflung zu sprechen. Die Einschätzung der Wiener Presse und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „bürgerlich-konservative Tageszeitungen“ erscheint etwas aus der Zeit gefallen und erinnert mich schon durch die antiquierte Rhetorik eher an Debatten auf dem Pausenhof meines Freiburger Gymnasiums. Mein Beitrag „im rechten Blog Die Achse des Guten“ wird weder von Wikipedia noch von Ihnen in irgendeiner Weise substanziell kommentiert. In dem „rechten Blog“ publizieren übrigens nicht nur Rechte, sondern auch Vertreter von SPD, FDP und Grünen, neben gläubigen Christen auch gläubige und ungläubige Juden, ebenso Muslime. All dies ist kein Grund für irgendeine öffentliche Aufregung, solange nicht Rechtsradikalen, Linksradikalen, Islamisten oder Extremisten aller Couleur eine Bühne geboten wird, wofür mir 2017 keinerlei Hinweise vorlagen und auch jetzt nicht vorliegen.
Wenn Wikipedia glaubt, eigens betonen zu müssen, dass mich Jordan Peterson publizistisch beeinflusst hat, lasse ich dies gerne gelten. Peterson hat seinerzeit als erklärter „klassischer Liberaler“ eine wichtige Rolle im antiautoritären Protest an nordamerikanischen Universitäten gespielt. Moralischen Narzissmus hat er nicht weniger treffend kritisiert wie die weltfremde Idee der „kulturellen Aneignung“ – bei allen polemischen Spitzen, wie sie Protestbewegungen nun einmal mit sich bringen. Nach dessen konservativer Wende habe ich die Publikationen Jordan Petersons nicht mehr weiterverfolgt. Nicht aus Panik, sondern weil andere Intellektuelle zahlreiche seiner Themen detaillierter und vielleicht auch etwas nuancierter aufgegriffen oder parallel weiterentwickelt haben.
Gerne würde ich Ihnen zu Ihren Gunsten eine Unfähigkeit zum sinnerfassenden Lesen unterstellen. Nur fürchte ich, Sie verfolgen eher die inzwischen hinlänglich bekannte Strategie der Diffamierung durch Assoziation. Ich glaube aber nicht, dass Sie damit durchkommen.
Univ.-Prof. Dr. Ulrich Morgenstern
Musikwissenschaftler
Sprecher der Fachgruppe Kulturwissenschaften im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit
