Die Bedingungen der Möglichkeit der Legitimation. Zu den Grenzen einer legitimen Tätigkeit des demokratischen Staates

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von Lothar Fritze*

Die Bedingungen der Möglichkeit der Legitimation eines demokratischen Staates definieren die Grenzen einer legitimen Staatstätigkeit. Demokratische Verfassungsstaaten legitimieren sich durch Zustimmung, das heißt durch Willensbekundungen der Regierten. Demokratien haben ihren Geltungsgrund im Willen der Menschen; ihre Herrschaftsausübung gilt als rechtmäßig, weil und insofern die Herrschaftsunterworfenen sowohl den Strukturen und Institutionen der politischen Ordnung selbst als auch der verfassungsrechtlich geregelten Form der Machtausübung zugestimmt haben. Herrschaftslegitimierende Zustimmungen werden in Wahlen und Abstimmungen erteilt.

Die Zustimmung zum staatlichen Gesamtsystem und seiner verfassungsrechtlichen Ordnung wird durch ein Referendum eingeholt; sie kann aber auch durch die Teilnahme der Bürger am politischen Prozess, insbesondere durch die regelmäßige Wahl von Vertretern und Verteidigern der institutionellen Grundstruktur des Staates als erteilt gelten. Die wiederholte Wahl „staatstragender“ Parteien und ihrer Repräsentanten über mehrere Legislaturperioden hinweg ist nicht nur als prinzipielle Zustimmung zu deren Arbeit, sondern auch zur staatlichen Ordnung insgesamt zu verstehen. Die Anerkennung der verfassungsrechtlichen Grundstruktur des Staates erfolgt in diesem Falle nur indirekt; Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen gewinnen dadurch eine zusätzliche Dimension. Für all jene, die erst nach einem möglichen Referendum Bürgerstatus erworben haben oder schlicht Nachgeborene sind, steht allein dieser indirekte Weg, Zustimmung zu erteilen, offen.

 

I. Herrschaftslegitimierende Zustimmung

 

Aus dieser Legitimationsidee eines demokratischen Staates lassen sich Bedingungen der Möglichkeit einer herrschaftslegitimierenden Zustimmung ableiten.[1] Diese Bedingungen der Möglichkeit einer herrschaftslegitimierenden Zustimmung beschränken die legitimen Handlungsoptionen eines Staates, der sich der Staatsform der Demokratie zurechnet. Ein demokratischer Staat, der in seiner Tätigkeit diese prinzipiellen Grenzen einer legitimen Staatstätigkeit überschreitet, handelt illegitim und nicht zustimmungsfähig. Zu nennen sind zwei fundamentale Bedingungskomplexe, deren Nichtbeachtung die Anerkennungswürdigkeit eines demokratischen Staates untergräbt oder gar zerstört.

Erstens: Allein der sich in der faktischen Zustimmung äußernde Wille der Staatsbürger kann einer demokratischen Verfassungs- und Rechtsordnung Legitimität verschaffen. Demokratische Ordnungen sind nicht objektiv, das heißt nicht unabhängig vom Willen der Bürger, legitim. Damit die Zustimmung eine Legitimation erzeugende Kraft entfaltet, muss sie zum einen das Ergebnis einer freien, das heißt nicht fremdbestimmten, Urteils- und Willensbildung sein. Die politische Willensbildung der Bürger hat eine anthropologische Basis. Diese Basis sind die fundamentalen Bedürfnisse des Menschen, die jeder Mensch befriedigen muss, um überhaupt Mensch und speziell jener Mensch bleiben zu können, der er ist. Das Streben nach Befriedigung dieser Bedürfnisse ist der Inhalt eines vorpolitischen, gleichsam allgemein-menschlichen Willens. Dieser weitgehend übereinstimmende vorpolitische Wille der Einzelnen liegt dem demokratischen Prozess der Bildung der konkreten politischen Willen voraus. Seine Respektierung ist eine notwendige Bedingung der Legitimität eines demokratischen Gemeinwesens. Zum anderen kann nur die Zustimmung eines solchen Bürgers Legitimität erzeugen, der auf einem Mindestniveau der Rationalität operiert und damit dem Selbstverständnis eines vernünftigen, zur Selbstbestimmung fähigen Wesens genügt, bei Wahlen und Abstimmungen wohlinformierte, rationale Entscheidungen zu treffen. Diese Bedingungen bestimmen, welche Art von Zustimmung eine herrschaftslegitimierende Wirkung entfaltet – vor allem aber, durch welche Qualität der Zustimmung eine solche Wirkung nicht entfaltet wird. Zugleich definieren sie die Grenzen einer legitimen Herrschaft.

Daraus folgt: Eine staatlicherseits durch ideologische Indoktrination oder informationelle Steuerung manipulativ erzeugte Zustimmung kann (1) zwar herrschaftstechnisch effektiv sein, ist aber unter Legitimationsgesichtspunkten betrachtet wertlos. Der demokratische Staat, dessen Legitimität (Rechtmäßigkeit) an der freien Zustimmung seiner Bürger hängt, kann diese, ohne sich in einen Selbstwiderspruch zu verwickeln, nicht selbst auf dem Wege geistiger Manipulation herstellen. Er kann die Zustimmung der Bürger auch nicht dadurch gewinnen wollen, dass er ihnen entscheidungsrelevante Informationen gezielt vorenthält oder dosiert zuteilt, um auf diesem Wege gewünschte Überzeugungen entstehen zu lassen.

Die Entscheidung des Grundgesetzgebers für die freiheitliche demokratische Grundordnung impliziert (2) denknotwendig die Entscheidung für einen freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Als frei und offen kann der Prozess der Urteils- und Willensbildung nur dann gelten, wenn der Staat auf sämtliche Formen einer manipulativen, nicht-argumentativen Legitimationsbeschaffung verzichtet. Jeder Versuch, mit Hilfe volkspädagogischer politischer Erziehungsmaßnahmen Zustimmung zu generieren, ist dem demokratischen Staat untersagt. Der Bürger ist kein Objekt staatlicher Erziehung und Bewusstseinsformung. Der demokratische Staat zerstörte die Bedingungen der Möglichkeit seiner Legitimation, sobald er die politische Meinungsbildung selbst in die Hand nähme. Seinen Bürgern gegenüber ist er zur Wahrheit verpflichtet. Dies gilt auch in Notsituationen. Die auf Zeit bestellten Repräsentanten, Amtsträger sowie die staatlich finanzierten Medien sind zudem zur Unparteilichkeit verpflichtet. Sie haben sich im Meinungskampf neutral zu verhalten und sich jeder weltanschaulichen oder religiösen Missionierung zu enthalten. Der freiheitlich-demokratische Staat unterliegt einem Manipulations- und Missionierungsverbot. Das individuelle Recht auf Selbstbestimmung, das der Einzelne gegen einen freiheitlichen demokratischen Staat denknotwendig hat, impliziert das Grundrecht, von staatlicher Propaganda unbeeinflusst zu bleiben.

Das Wesen einer Demokratie erschöpft sich (3) nicht in einem friedlichen Machtwechsel. Ein Machtwechsel „ohne Blutvergießen“ (Popper) ließe sich auch unter den Bedingungen einer staatlich organisierten geistigen Manipulation eines hinreichend großen Teiles der Wählerschaft zwischen Parteien mit gleicher ideologischer beziehungsweise politisch-moralischer Grundausrichtung bewerkstelligen. Ein solcher Machtwechsel wäre selbst in einem totalitären Staat mit einem Mehrparteiensystem zwischen konkurrierenden – die Herrschaft sich teilenden – Führungscliquen organisierbar, die demselben ideologischen Hegemon zuzurechnen sind.

Zweitens: Zustimmung wird erfragt von den wahlberechtigten Bürgern einer Gemeinschaft, die sich politisch formiert und die Staatsform der Demokratie gewählt hat. Gewählt werden zum einen Parteien und zum anderen Personen, die für Parlamentssitze oder Ämter kandidieren. Die vom Volk, dem Souverän, bestimmten Repräsentanten treffen entsprechend der rechtlich fixierten Regeln der Entscheidungsfindung allgemein verbindliche Entscheidungen, die das Zusammenleben sowie die Existenzsicherung des Staates betreffen. Die Zustimmung zu den Regeln der Entscheidungsfindung, zu den Regeln, wie Gesetze erlassen und konkrete Entscheidungen getroffen werden, sorgt dafür, dass der Einzelne auch jene Gesetze und Entscheidungen akzeptieren kann, mit denen er nicht übereinstimmt.

Das Volk, der Souverän, ist als ein Kollektivwesen nicht handlungsfähig. Handlungsfähig im eigentlichen Sinne und damit zustimmungsfähig sind nur Individuen. Kein vernünftiger, zur Selbstbestimmung fähiger Mensch könnte ohne intellektuelle Selbstaufgabe einem Herrschaftssystem zustimmen, das eine unbegrenzte Macht über ihn selbst sowie die Art seiner Lebensführung beanspruchte oder sogar ausübte. Ein Volk, das sich freiwillig der Führung einer Macht dauerhaft und unumkehrbar unterwürfe, weil es deren Anspruch auf überlegene Einsichtsfähigkeit und Entscheidungskompetenz akzeptierte und sie dazu ermächtigte, die eigenen Lebensvoraussetzungen irreversibel zu transformieren, verwickelte sich in einen Selbstwiderspruch. Es gäbe nämlich seinen Willen zur Selbstbestimmung auf, der seinerseits der übereinstimmenden Entscheidung der Gemeinschaftsmitglieder, sich in einem demokratischen Staat politisch zu organisieren, zugrunde lag und fortwährend zugrunde liegt.

Daraus ergibt sich: Auch eine repräsentative Demokratie kann ein legitimer demokratischer Staat sein. Allerdings ist in einer repräsentativen Demokratie die Regel- bzw. Verfassungskonformität des Zustandekommens einer Entscheidung nicht allein ausschlaggebend für die Beurteilung der Legitimität dieser Entscheidung. Die Ermächtigung der demokratisch gewählten Repräsentanten, einschließlich des Parlaments, allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen, unterliegt inhaltlichen Beschränkungen.

Solche Beschränkungen resultieren (1) aus von keinem rationalen Wesen aufgebbaren individuellen Rechtsansprüchen, die verfassungsrechtlich zu garantieren sind. Die individuellen Grundrechte formulieren Verpflichtungen des Staates gegenüber den Bürgern des Staates. Sie beschränken einerseits (als Abwehrrechte) die Handlungsoptionen des demokratischen Staates und verpflichten ihn andererseits (als Anspruchsrechte), bestimmte Aufgaben in Bezug auf die Realisierung staatlich geschützter Interessen der Einzelnen zu erfüllen. Eine wohlbegründete Einschränkung von Grundrechten ist auf gesetzlicher Grundlage möglich – sofern deren Wesensgehalt davon nicht tangiert wird. Grundrechte können aber nicht eingeschränkt werden, um den Staat etwa vor Kritik zu schützen.

Den auf Zeit gewählten Repräsentanten eines demokratischen Staates ist es (2) nicht erlaubt, den Souverän „auszutauschen“ oder neu zusammenzustellen. Dies bedeutete seine Entmachtung. Nun finden Zuwanderung und auch Einbürgerungen zu jeder Zeit in einem bestimmten Maße statt. Entscheidend für die demokratietheoretische Beurteilung sind die Gründe, die zu einer legalen Einwanderung führen, sowie das Ausmaß, in dem Einwanderer zu deutschen Staatsbürgern gemacht werden. Einer Regierung ist es jedenfalls verboten, das Land nach eigenem Ermessen in ein Einwanderungsland zu verwandeln und eine Einwanderungspolitik zu betreiben, die zu einer wesentlich anderen ethnischen, rassischen, kulturellen oder religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung führt. Damit nämlich könnten die Zustimmungsvoraussetzungen zu der bestehenden Staatsform sowie zu dem konkreten (demokratischen) Staat und somit auch zu den fundamentalen Strukturen und Institutionen des politischen Systems signifikant verändert werden. Zugleich ließen sich auf diese Weise die Wahlchancen bestimmter Parteien unzulässig beeinflussen. Ein Volk, das Entscheidungen dieser Tragweite delegierte, hätte seine Souveränität aufgegeben. Es hätte seinen Repräsentanten die Macht verliehen, sich selbst faktisch oder gar gezielt ein „neues Volk“ zu schaffen. Die Idee der Volksherrschaft ist mit einer solchen Ermächtigung unvereinbar. Eine den Willen des Volkes übergehende Migrations- und Einwanderungspolitik zerstört die Bedingungen der Möglichkeit einer herrschaftslegitimierenden Zustimmung. Eine Regierung, eine politische Kaste, die den Souverän entsprechend ihrer eigenen politisch-moralischen Grundüberzeugungen neu formierte, indem sie die tradierte Reproduktionsform des Souveräns, der sich beispielsweise in der Generationenabfolge einer Abstammungsgemeinschaft konstituiert, durch eine ganz andere Reproduktionsweise – und sei es auf dem Wege eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts – ergänzte und damit wesentlich veränderte, unterminierte eine notwendige Voraussetzung der demokratischen Legitimation. Sie handelte insofern demokratietheoretisch illegitim. Nur der Souverän selbst könnte – auf dem Wege der Abstimmung und mit einer qualifizierten Mehrheit – seine eigene Reproduktionsform neu regeln.

Beschränkungen eines legitimen Regierungshandelns sind zudem (3) hinsichtlich des Umfangs der auf den Weg gebrachten gesellschaftlichen Veränderungen sowie der Eingriffstiefe in bestehende gesellschaftliche Zusammenhänge anzuerkennen. Die Repräsentanten eines demokratischen Staates, dessen verfassungsmäßige Ordnung den Rechtsstaat sichert, die innere Sicherheit gewährleistet und der das Volk vor äußeren Feinden schützt, werden in Wahlen nicht ermächtigt, Entscheidungen hinsichtlich der grundlegenden Neuausrichtung der historisch entstandenen Lebensform zu treffen, die von großen Bevölkerungsteilen nicht mitgetragen werden.[2] Zum Beispiel: Eine dem Umfange nach relevante Einwanderung hat Konsequenzen für die relative Einheitlichkeit des Denkens und Handelns der Gesellschaftsmitglieder und damit für das Lebensgefühl und das Zusammenleben der Menschen; vor allem aber beeinflusst sie die Möglichkeiten der autochthonen Gemeinschaft, ihre Traditionen und Lebensgewohnheiten zu bewahren und im ganzen Land in der eigenen Sprache beziehungsweise den bis dahin üblichen Landessprachen kommunizieren zu können. Eine in Quantität und Qualität unkontrollierte Einwanderung hat Konsequenzen für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung und damit für die Bereitschaft der Einzelnen, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen oder gar im Verteidigungsfalle persönlich Opfer zu bringen. In einem sozial und mental gespaltenen Gemeinwesen fällt es schwer, Interesse am Gemeinwohl zu entwickeln. Die Neigung, den eigenen Staat auszunutzen oder gar zu plündern, wächst. Die Verteidigungsfähigkeit eines Landes hängt zwar maßgeblich von seiner wissenschaftlichen-technischen Kompetenz und seiner ökonomischen Potenz ab, über seine militärische Kampfkraft entscheiden letztlich aber auch heute noch die Aufopferungsbereitschaft und Leidensfähigkeit seiner Bevölkerung. Es wäre daher ein Fehler, die militärische Stärke eines Gegners ausschließlich nach dessen Bruttosozialprodukt zu beurteilen.

 

II. Das demokratische Selbstbestimmungsrecht

 

In einer Demokratie kann legitimerweise nur die Gesamtheit der Bürger darüber entscheiden, in was für einem Land sie zu leben gedenkt. Nur die Bürgerschaft selbst (und nicht eine Kaste von führenden Berufspolitikern, von denen zumal viele unabhängig von der Zustimmung, die sie in ihrem Wahlkreis persönlich erfahren haben, über sichere Listenplätze ihrer Parteien ins Parlament gelangen) hat das natürliche Recht, die grundlegenden Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie leben und mit wem sie auf welche Weise zusammenleben will.

In einem freiheitlich-demokratischen Staat ist es weder den aktuellen Machthabern noch einer dominierenden Elite erlaubt, die gesamte Gesellschaft entsprechend fragwürdiger Gefahrenanalysen oder nach eigenen Vorstellungen von einer besseren Welt sowie von zivilisatorischem Fortschritt umzumodeln und die bislang allgemein praktizierte Lebensweise unter bestimmten Gesichtspunkten, etwa der Gerechtigkeit, der Gesundheitserhaltung oder der Nachhaltigkeit, schrittweise umzugestalten. Regelkonformität des Zustandekommens einer Entscheidung ist dann keine hinreichende Legitimitätsvoraussetzung, wenn es sich um einen fundamentalen Eingriff in die Lebensbedingungen des Volkes beziehungsweise die Existenzweise des Souveräns handelt. Die Repräsentanten eines demokratischen Staates sind daher nicht legitimiert, tätig zu werden, um die in einer Gesellschaft allgemein praktizierte Art des Sprechens, des Alltags- oder Freizeitverhaltens, des Sich-Ernährens, des Wirtschaftens, des Wohnens etc. nach eigenem Gutdünken in prinzipieller Weise zu verändern.

Dieses qualifizierte Eingriffsverbot gilt selbstverständlich auch für das Bundesverfassungsgericht. Es ist demokratietheoretisch gänzlich inakzeptabel, dass ein Gremium von nur wenigen Personen – deren Auswahl auf in der Öffentlichkeit nicht bekannten und nicht diskutierten Überlegungen sowie parteipolitischen Motiven beruht – die Macht haben sollte, auf der Grundlage von häufig zeitgeistabhängigen gedanklichen Konstruktionen das Leben eines ganzen Volkes auf ein neues Gleis zu setzen.

Auch in Demokratien kommt es daher nicht nur darauf an, wie Entscheidungen zustande gekommen sind, sondern auch darauf, was für Entscheidungen getroffen wurden. Politische Entscheidungen, die das Leben und Zusammenleben der Menschen oder die Art des Wirtschaftens qualitativ verändern, werden nicht allein „durch Verfahren“ (Luhmann), durch den Konsens über die Regeln des Zustandekommens von allgemein verbindlichen Entscheidungen, legitimiert. Dies gilt zuallererst für solche regelkonform erlassenen Gesetze, die als materiell verfassungswidrig zu gelten haben – also auf einem Rechtsirrtum beruhen. Darüber hinaus müssen auch Entscheidungen, die auf die Transformation der Gesellschaft abzielen und jedem Einzelnen einschneidende Veränderungen auferlegen, von einer qualifizierten Minderheit des Volkes jedoch faktisch nicht goutiert und als ein nicht hinnehmbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht betrachtet werden, trotz ihres regelkonformen Zustandekommens als illegitim gelten.

Regelkonformität des Zustandekommens einer Entscheidung erzeugt dann keine Legitimation, wenn die praktische Umsetzung dieser Entscheidung (beziehungsweise des Gesetzes) zu einer fundamentalen, die Richtung der Entwicklung des Gemeinwesens verändernden und weitgehend unumkehrbaren Umgestaltung des Lebens und Zusammenlebens führt, die dem Willen großer oder unter dem Gesichtspunkt des sozialen Friedens und der inneren sozialen Stabilität nicht zu vernachlässigender Teile des Volkes widerspricht.

Die herrschaftliche Unterminierung der Selbstbestimmung des Souveräns zerstört die entscheidende Legitimationsvoraussetzung des demokratischen Staates.[3]

 

III. Die Missachtung des Souveräns

 

Sämtliche der genannten grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit der Legitimation des demokratischen Staates wurden und werden durch die derzeit herrschende politische Klasse missachtet und sukzessive untergraben.

Erstens: Der derzeitige kulturelle Hegemon, eine kosmopolitisch, individualistisch und moralisch universalistisch orientierte politisch-mediale Elite, ist bemüht, eine ideologische Hegemonie herzustellen, das heißt ihr eigenes weltanschauliches Überzeugungssystem zum allein gültigen, nicht kritisierbaren und revisionsunbedürftigen Maßstab allen Denkens und Handelns zu erheben. Diese das Land dominierende Elite hat einen Kulturkampf entfacht, in dem es ihr um eine Neujustierung der politisch-moralischen Grundorientierung des öffentlichen Bewusstseins geht.

Jede Gesellschaft hat sich in einer Reihe von weltanschaulich-philosophischen Fragestellungen zu positionieren und auf deren Basis Entscheidungen zu treffen. Solche Fragen – und hier handelt es sich nur um eine Auswahl – sind: ob nur Einzelmenschen oder auch Gruppen von Menschen (Kollektivwesen) wirklich existieren; ob, in welchem Maße und unter welchen Voraussetzungen der Einzelne das Recht hat, über sein eigenes Leben zu verfügen; ob jeder Mensch uns – unserer Person oder unserem Volk/Staat – gegenüber die gleichen menschenrechtlich begründeten Ansprüche geltend machen kann, sodass wir die Interessen aller Menschen gleichberechtigt zu berücksichtigen haben; ob jeder Mensch, nur weil er Mensch ist, einen Anspruch darauf hat, dass die Gesellschaft ihm ein Grundeinkommen gewährt; ob wir unser Leben und Zusammenleben weiterhin vorzugsweise in Nationalstaaten organisieren sollten oder besser in supranationalen Einheiten und letztlich in einem Weltstaat; ob jeder Mensch staatenübergreifend eine freie Wahl seines Wohnsitzes haben sollte; ob jeder das Recht haben sollte, sein Geschlecht selbst zu definieren; ob der Einzelne für sein Handeln und damit für seine Lage immer auch eine Mitverantwortung trägt und ob es gerecht ist, dass er in Abhängigkeit von seiner Leistung oder speziellen Vorzügen eine unterschiedliche gesellschaftliche Anerkennung erfährt.

Die Antworten auf diese Fragen hängen in letzter Instanz nicht von empirischen und theoretischen Erkenntnissen ab, sondern davon, welche metaphysischen Postulate man für plausibel oder lebenspraktisch vertretbar und welche moralischen und politischen Grundsatzannahmen man für angemessen, richtig oder gut hält. Bei der Bildung weltanschaulicher Grundüberzeugungen geht es letztlich nicht darum, was wahr ist; es geht um Grundsatzentscheidungen, die die kollektive Lebensform einer Menschengruppe und damit unser aller individuelles Leben betreffen. Diese kulturellen Prägungen bleiben in der Regel un- oder unterbewusst, beeinflussen aber das Denken, Wünschen und Wollen der Menschen, indem sie ihm Maßstäbe setzen und Richtung vorgeben.

Die in einer Kultur akzeptierten Grundsatzannahmen und Grundsatzentscheidungen der genannten Art bilden die „Hintergrundideologie“ einer Gesellschaft. Es sind jene Annahmen und Überzeugungen, die innerhalb einer gewachsenen Gemeinschaft für selbstverständlich, für unhinterfragt gültig, für weder erklärungs- noch rechtfertigungsbedürftig, sozusagen für normal gehalten werden und den Kernbestand der politisch-moralischen Grundorientierung dieser Gemeinschaft ausmachen.

Inhalt des gegenwärtigen Kulturkampfes ist eine Auseinandersetzung zwischen gegensätzlichen und sich widersprechenden politisch-moralischen Grundorientierungen.[4] Das Hauptkennzeichen dieses Kampfes ist der Versuch einer Minderheit, das System der tradierten, stets auch kollektivistisch und partikularistisch orientierten politisch-moralischen Grundüberzeugungen der Mehrheit durch moralische und verfassungsrechtliche Infragestellung zu destruieren, für unzulässig zu erklären und durch ihre eigenen, nämlich individualistischen und universalistischen politisch-moralischen Grundüberzeugungen gesellschaftlich zu ersetzen. Zu diesem Zweck legt sie es zum einen darauf an, mittels verschiedener Methoden der Indoktrination und geistigen Manipulation sowie der selektiven Zuteilung von Informationen durch staatlich kontrollierte Medien die Urteils- und Willensbildung des Souveräns und damit letztlich die Entscheidungen und das Handeln der Menschen zu steuern.

Während der Corona-Krise beispielsweise operierte man mit der Erzeugung von Angst und Schuldkomplexen, um das Verhalten der Bevölkerung auf Regierungslinie zu bringen. Zum anderen versucht die dominierende Elite, durch Stigmatisierung und Ausgrenzung Andersdenkender deren Einfluss auf öffentliche Debatten zu limitieren und die Meinungsbildung der Bürgerschaft zu kontrollieren. Die Strategie dieser elitären, sich an den Schalthebeln der politischen Macht befindlichen Kaste zielt darauf ab, die geistige Unabhängigkeit der Wahlbevölkerung zu zerstören und einen unterwerfungsbereiten Untertan zu erzeugen. Ein demokratischer Staat, der durch Repräsentanten und Amtsträger sowie unter Mithilfe von Ideologen und Volkserziehern auf diese (unzulässige) Weise wirksam wird, erschwert nicht nur eine freie und rationale Überzeugungsbildung der Staatsbürger; er untergräbt seine demokratische Legitimation und negiert sich selbst.

Zweitens: Der politisch-kulturelle Hegemon nutzt (1) die Mittel der Diffamierung und der Einschüchterung, um Personen, die von ihm nicht gewünschte Meinungen äußern, politisch und moralisch unter Druck zu setzen und sozial auszugrenzen. Er bedient sich des Mittels der Zensur und des sogenannten Cancelns, um die öffentliche Äußerung oppositionellen Gedankengutes zu verhindern. Die die Schalthebel der politischen und kulturellen Macht in ihren Händen haltende politisch-mediale Elite kämpft derzeit darum, ihre bereits gewonnene kulturelle Hegemonie in eine ideologische Hegemonie zu transformieren. Eine solche ideologische Hegemonie ist dann etabliert, wenn die öffentliche Äußerung abweichender Meinungen in das Reich des Unsagbaren und Undiskutierbaren verbannt und in letzter Konsequenz unter Strafe gestellt wäre. Indem durch ganz unterschiedliche Maßnahmen der Abschreckung, Benachteiligung und Repression Bürger sanktioniert werden, die von ihrer Meinungsäußerungsfreiheit einen legitimen Gebrauch machen, wird das Grundrecht sowohl auf Meinungs- als auch auf Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt. Unter Aufbietung fadenscheiniger Argumente, die man nur bei Akzeptanz der vom Hegemon gepredigten Ideologie für gültig halten kann, wird die parlamentarische und außerparlamentarische Tätigkeit der Opposition hintertrieben und zum Teil unmöglich gemacht. Die permanent im Raum stehenden Desavouierungs- und Denunziationsdrohnungen, die sich bereits bei ideologieinkonformen Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle realisieren können, widersprechen dem Recht auf Meinungsfreiheit. Mit der illiberalen und illegitimen Einschränkung der Meinungsfreiheit sinkt das Angebot überraschender, inspirierender und kontrovers diskutierbarer Ideen; es verengt sich der Korridor, in dem gedacht und öffentlich diskutiert werden kann. Geschwächt wird jenes Moment, das die überlegene Leistungsfähigkeit von Demokratien gegenüber anderen Staatsformen ausmacht: eine abgewogene Urteils- und Willensbildung innerhalb der Gesamtgesellschaft, die, wenigstens tendenziell, zu besseren Problemlösungen führt. Der Machtmissbrauch der gegenwärtig dominierenden politischen Elite hingegen erzeugt ein Klima der Ängstlichkeit und der vorauseilenden Anpassung; er formt viele Menschen zu Konformisten und Opportunisten, die sich dem politisch-moralischen Ideensystem des kulturellen Hegemons unterwerfen. Generell gilt: Der demokratische Staat setzt den autonomen, seine Überzeugungen eigenständig formenden und seinen Willen selbst bestimmenden Bürger als eine Bedingung seiner eigenen Möglichkeit voraus. Ein demokratischer Staat, der diesen Bürger bekämpft, zerstört sich selbst.

Die seit Jahren laufende, bislang ungebremste Masseneinwanderung nach Deutschland plus eine im Durchschnitt höhere Fertilitätsrate von Frauen mit Migrationshintergrund wird, sofern die Trends fortbestehen, (2) dazu führen, dass die autochthone Bevölkerung in einigen Jahrzehnten zur Minderheit geworden ist. Diese Einwanderung wird regierungsseitig hingenommen; effektive Gegenmaßnahmen, einschließlich notwendiger Gesetzesänderungen (gegebenenfalls auf EU-Ebene), werden, obwohl entsprechende Vorschläge existieren, nicht ergriffen. Stattdessen versucht man, illegale Einwanderung in legale umzuwidmen und aus Eingewanderten möglichst schnell deutsche Staatsbürger, also Mitgesetzgeber, zu machen. Offenbar wird die damit verbundene ethnische, kulturelle und religiöse Neukonfiguration des Souveräns von Teilen der politischen Klasse gewollt und bewusst herbeigeführt; andere Teile der politischen Klasse nehmen diese Konsequenz entweder aus parteipolitischen Machterhaltungsgründen oder aus Gründen der persönlichen Karriereplanung bewusst in Kauf. Die derzeitige Politik jedenfalls akzeptiert letztlich die Resultate, die ein von linken und linksgrünen Aktivisten propagiertes förmliches Recht auf weltweite Niederlassungsfreiheit in ganz ähnlicher Weise zeitigen würde. Eine Neukonfigurierung des Souveräns auf der Basis einer veränderten Reproduktionsform ist jedoch ohne dessen ausdrückliche Zustimmung illegitim.

Es ist (3) vor allem jene kosmopolitisch, individualistisch und moralisch universalistisch orientierte Elite, die sich zum Vormund des Volkes berufen glaubt. Sie beansprucht die geistige Vorherrschaft im Lande und verfolgt eine Agenda der gesellschaftlichen Neuordnung. Dazu gehören die angestrebte Auflösung der Nationalstaaten Europas und die Gründung eines europäischen Bundesstaates, einschneidende Eingriffe in tradierte Lebensstile und Ernährungsgewohnheiten, die Quasi-Verpflichtung der Bevölkerung auf Gerechtigkeitsvorstellungen, für die die Selbstbehauptung und das eigene Wohlergehen nicht mehr primär im Fokus stehen. Zu dieser Agenda gehören insbesondere die Herstellung einer multikulturellen, diversen Gesellschaft durch gezielte Einwanderung und leicht erfüllbare Einbürgerungsangebote. Eine Agenda der Neuordnung verfolgt auch das Bundesverfassungsgericht, das „grundlegende Einschränkungen und Umstellungen von Produktionsprozessen, Nutzungen und alltäglichem Verhalten“ für erforderlich erklärt, um in Deutschland Klimaneutralität zu erreichen und damit den Verpflichtungen, die aus Art. 20a GG angeblich erwachsen, nachzukommen[5] (und zwar ohne einen Nachweis erbracht zu haben, dass diese Maßnahmen tatsächlich geeignet sind, die gewünschten Wirkungen auf den globalen Klimawandel zu erzeugen).

Diese Elite hat es aufgrund ihrer politischen Machtstellung und ihres ideologischen Einflusses vermocht, das Volk zu überrumpeln und Entscheidungen mit einem Transformationspotential zu treffen, die das gesamte Land und das Leben jedes Einzelnen nachhaltig und einschneidend verändern – Entscheidungen, von denen man weiß, dass sie von der Mehrheit des Volkes oder wenigstens einer relevanten Minderheit weder gewünscht noch unter moralischem Gesichtspunkt für erforderlich gehalten werden. Eine ihrer Hauptmethoden besteht darin, immer mehr Entscheidungskompetenzen an supranationale Organisationen, an Gerichte oder Zentralbanken, also an Institutionen zu verlagern, die mit ihren eigenen Anhängern besetzt sind, um auf diese Weise Entscheidungen dem demokratischen Prozess zu entziehen und sie zugleich selbst beeinflussen und kontrollieren zu können.

 

IV. Auf Abwegen

 

Die vorstehenden Ausführungen fällen kein Werturteil über die politisch-moralische Grundorientierung des kulturellen Hegemons; sie bewerten auch nicht die angestrebten gesellschaftlichen Transformationen an sich. Vor allem enthalten sie, zum einen, Aussagen über die Bedingungen der Legitimation eines demokratischen Staates sowie, zum anderen, Aussagen darüber, ob beziehungsweise inwieweit der deutsche Staat diesen Legitimationsvoraussetzungen derzeit genügt.

Das diesbezügliche Fazit lautet: Die deutsche Demokratie befindet sich auf Abwegen. Sie ist dabei, sich selbst ad absurdum zu führen. Ideologen und totalitär gesinnte Feinde der Freiheit haben am Willen des Volkes vorbei eine Transformation von Staat und Gesellschaft eingeleitet. Dazu waren und sind sie nicht ermächtigt.

Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob die bereits in die Wege geleiteten oder vorgesehenen Transformationen tatsächlich Gefahren bekämpfen oder zur Erreichung der anvisierten Ziele geeignet sind. Kein Souverän kann sich Entscheidungen, die die weltanschauliche Grundausrichtung der Entwicklung der Gesellschaft betreffen, aus der Hand nehmen lassen. Eine derartige und zudem auf Dauer gestellte Selbstermächtigung einer Führungselite zu akzeptieren hieße, die Führer der totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts, die genau eine solche herausgehobene Kompetenz der vermeintlichen Gefahrenabwehr und der Weltverbesserung für sich in Anspruch nahmen und damit ihre Herrschaft rechtfertigten, nachträglich – in dieser Hinsicht, nämlich in Bezug auf die Geltendmachung und Realisierung eines solchen Anspruchs – zu legitimieren. Das heißt umgekehrt: Das Risiko, das damit verbunden ist, dass Mehrheiten – im Gegensatz zu möglicherweise besser informierten oder weitsichtigeren Minderheiten oder Einzelnen – falsche Entscheidungen treffen, muss in einem demokratischen Staat getragen werden.

Die politisch-mediale Elite des Landes hat sich jedoch von der Idee der Selbstregierung des Volkes verabschiedet. Ihr geht es um Herrschaftssicherung und die – von einer breiten Masse der Bevölkerung nicht gewollte und nicht unterstützte – inhaltliche Realisierung ihrer kulturellen Hegemonie. Diese Machtausübung ist illegitim. Jede „Regierung“, so formulierte es Kant, „die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre“, „wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind“, „ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)“.[6]

Idealtypische Vorstellungen – wie die von der Selbstregierung eines Volkes – geben Orientierung, werden aber im praktischen Leben nicht realisiert. Insofern ist eine bloße Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit noch kein Grund, das Schlimmste zu befürchten. Allerdings sollte ein fortschreitendes Sich-Entfernen der realen Verhältnisse von ihrem maßstabsetzenden Idealbild Anlass zur Sorge sein. Die immer offensichtlicher werdende Missachtung des Willens relevanter Teile des Volkes – und zwar jener Willensbestandteile, die politisch-moralische Grundüberzeugungen reflektieren – begründet demokratietheoretisch ernstzunehmende Befürchtungen. Von der einheimischen Bevölkerung wird erwartet, dass sie die Folgen der eingeleiteten bevölkerungspolitischen und gesellschaftlichen Transformation stillschweigend erträgt und sich in Wohlverhalten ergeht. Um den bereits eingetretenen und absehbaren lebenspraktischen Verwerfungen Herr zu werden, fordert man von den deutschstämmigen Staatsbürgern, sich an die neuen Zustände anzupassen, sich gleichsam im eigenen Land zu integrieren, und droht mit Repressionen im Falle von unbotmäßiger Kritik oder mangelnder Unterwürfigkeit.

In welch eklatanter Weise Willensbekundungen des Volkes missachtet werden, zeigt insbesondere die Stigmatisierung, die Ausgrenzung und die nicht gerechtfertigte Kriminalisierung oppositioneller Kräfte. Das bislang nicht gekannte Vorgehen gegen die politische Opposition rührt am Fundament der demokratischen Staatsform, die sich ohne Opposition und ohne Wahrung der Rechte der Opposition nicht denken lässt.

Nicht der – durchaus intensiv geführte – Kulturkampf ist das Grundübel der Zeit, sondern die machtgestützte Strategie des in den westlichen Ländern dominierenden kulturellen Hegemons, die offene und zivilisierte Austragung dieses Kampfes zu torpedieren und in der Sache letztlich zu verhindern. Die Vertreter der individualistischen und universalistischen Grundauffassung weigern sich, die partielle Berechtigung auch der kollektivistischen und partikularistischen Grundauffassung anzuerkennen. Dies hat sie im Kampf um gesellschaftliche Durchsetzung ihrer Ansichten und Zukunftsvisionen dazu verführt, die Übernahme ihrer Positionen als eine Frage der Moral erscheinen zu lassen. Allerdings sind tonangebenden Aktivisten der individualistischen und universalistischen Grundorientierung in ihrer nicht selten blindwütigen Kampfesführung elementare Realitätsbezüge abhandengekommen. Sie erkennen nicht, dass es nicht nur um die Anerkennung des moralisch Gebotenen und die Realisierung des Wünschbaren gehen kann, sondern auch Fragen des anthropologisch Zumutbaren sowie des lebenspraktisch Machbaren und damit der Klugheit verhandelt werden müssen.

Die Vertreter der derzeit herrschenden Elite sind die Hauptgefährder der Demokratie. Sie haben das Land auf eine Schiene gesetzt, die in den totalitären Abgrund führt.

 


*     Prof. Dipl.-Ing. oec. Dr. phil. habil.; 1993-2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden; lehrte als apl. Professor Politikwissenschaft an der TU Chemnitz.

[1]       Siehe dazu Verf.: Der freiheitliche Staat und seine Zerstörer. Wie eine politisch-mediale Elite die Entmachtung des Volkes betreibt. Graz 2025, Kap. II und III.

[2]       Insofern ist der von Kant vorgeschlagene „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“: „Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen“ (Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 250, A 266. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Darmstadt 1983, Bd. 9, S. 153, 162 [Hervorhebung getilgt]) nicht akzeptabel. Kant hielt nur solche Gesetze für „nicht gerecht“, denen „ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte“. Bei Gesetzen hingegen, denen ein Volk möglicherweise zustimmen könnte, sei es „Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten: gesetzt auch, daß das Volk itzt in einer solchen Lage, oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde“ (ebd., A 250, S. 153 f.). Indem Kant nicht zwischen Entscheidungen (beziehungsweise Gesetzen), die dem „politischen Tagesgeschäft“ zuzurechnen sind, und Grundsatzentscheidungen, in denen eine Wahl zwischen politisch-moralischen Grundorientierungen ihren Ausdruck findet und die zur Beschreitung unterschiedlicher zivilisatorischer Pfade führen, unterscheidet, eröffnete dieses Legitimitätskriterium auch demokratischen Politikern eine Machtfülle, die sich ansonsten nur totalitäre Führer unterschiedlicher Fasson angemaßt haben. Nur weil man nicht ausschließen kann, dass ein Volk auch einer von Staatslenkern ins Auge gefassten Grundsatzentscheidung hinsichtlich einer politisch-moralischen Neuorientierung zustimmen könnte, können auf Zeit gewählte Politiker nicht als legitimiert betrachtet werden, solche Entscheidungen ohne ausdrückliche Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit des Volkes und damit womöglich gegen den Willen einer relevanten Minderheit des Souveräns zu treffen.

[3]       Welche Rechte sich aus dem Eintritt eines solchen illegitimen Zustandes für das Volk ergeben, ist eine – hier nicht zu diskutierende – Frage für sich. Es lässt sich jedoch sagen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung, einschließlich des Rechts, die Regierung, die Staatsmacht sowie die politische Klasse zu kritisieren, und das Rechts auf Informationsfreiheit sich nicht nur aus dem Selbstverständnis eines vernünftigen, zur Selbstbestimmung fähigen Wesens, sondern auch aus dem Selbstbestimmungsrecht des Souveräns ergeben. Weder ein individuelles Vernunftwesen noch der Souverän als ein Kollektivwesen könnten widerspruchsfrei einer Regel zustimmen, die einen einzelnen Machthaber oder eine Führungsgruppe ermächtigte, ihre Lebensform nach eigenem Gutdünken in grundlegender Weise zu transformieren. Dies schließt eine Zustimmung zu einer konstitutionellen Diktatur, die auf der Grundlage von verfassungsrechtlichen Notstandsbestimmungen auf eine bestimmte Zeit und für die Aufgabe, die Voraussetzungen für das Funktionieren der verfassungsmäßigen Ordnung wieder herzustellen, errichtet wird, nicht aus.

[4]       Siehe Verf.: Kulturkampf. Moralischer Universalismus statt Selbstbehauptung? Dresden 2021, Kap. I und IV.

[5]       BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 –, Leitsatz 2, Rn. 37.

[6]       I. Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, a. a. O., A 236, S. 145 f.